Axel Rudolph - Der rote Faden

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Auf einer Landstraße in der Nähe von Stralsund wird ein brennendes Autowrack gefunden. In ihm die Leiche der jungen Tänzerin Graziella Holm. Alles deutet zunächst auf einen gewöhnlichen Autounfall hin, wären da nicht die Würgemale am Hals der Toten. Graziella Holm ist ermordet worden. Die Polizei ist ratlos; es lässt sich weder ein Motiv für den Mord finden, noch gibt es genügend Anhaltspunkte, um den Tathergang zu rekonstruieren. Den einzigen Hinweis auf den Täter liefert ein roter Wollfaden, der unter dem Fingernagel der Tänzerin gefunden wird. Was hat Graziella Holm getan oder gewusst, dass sie sterben musste? Und wer ist der mysteriöse Mann aus ihrer Vergangenheit, der sie kurz vor ihrem Tod in ihrer Wohnung aufgesucht und sie im Auto begleitet hat?-

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Axel Rudolph

Der rote Faden

Kriminalroman

Saga

I

Graziella Holm ist tot.

Manche von euch haben sie gekannt: die Schüler der Blendorfschen Tanzschule, die jungen Kameraden und Kameradinnen, mit denen sie im Sommer auf den Havelseen paddelte oder abends lachend und plaudernd durch den Tiergarten spazierte. Ihr habt euch über sie amüsiert, wenn ihr allzeit schlagfertiges Mundwerk einen Aufdringlichen abfertigte; ihr habt euch mit ihr gefreut, als sie von ihrer Tante in Dänemark den kleinen Wagen als Geschenk erhielt.

Nun ist sie tot.

Ihr, die ihr sie kanntet, habt mit tiefem Erschrecken die Nachricht in der Zeitung gelesen:

„Stralsund, den 19. Juni. Gestern nachmittag fuhr ein Personenkraftwagen auf der Landstrasse nach Demmin gegen einen Baum und geriet in Brand. Die Lenkerin des Wagens, die zwanzigjährige Tänzerin Graziella Holm aus Berlin, erlitt dabei den Tod und konnte nur als Leiche geborgen werden.“

Tausende haben die Notiz gelesen, flüchtig, mit kühlem Bedauern, ohne zu ahnen, dass Graziella Holm das fesche junge Mädel war, das so oft auf dem Kurfürstendamm oder sonstwo im Westen in ihrem kleinen Wagen an ihnen vorüberfuhr und dem sie vielleicht einen Augenblick schmunzelnd nachgeschaut haben, als wäre es der Frühling selbst gewesen.

Ihr aber, die ihr Graziella Holm persönlich kanntet, habt erschüttert über die tragische Nachricht miteinander gesprochen. Ihr habt Vermutungen aufgestellt und ausgetauscht, wie das Unglück wohl geschehen sein konnte. Ihr habt Erwin und Gerda Röseler, Graziellas beste Kameraden, mit Fragen bestürmt. Ihr habt bei Frau Jenny Nerger, der verheirateten Schwester Graziellas, die in Kladow wohnt, angeläutet und aufgeregt gefragt, ob es denn wahr und wie es eigentlich gekommen sei. Die kurze Zeitungsnachricht sagt so wenig.

Aber weder Frau Jenny Nerger noch die Geschwister Röseler können euch mehr sagen, als ihr schon selber wisst.

Die Polizei weiss etwas mehr. Sie hat Graziella Holm nicht gekannt. Für sie war das frische junge Mädel bisher weiter nichts als ein Blatt im Einwohner-Meldeamt und auf ihrem zuständigen Revier. Familienname: Holm — Vorname: Graziella. — Familienstand: ledig. — Beruf: Tänzerin. — Geburtsdatum: 22. 5. 1915 zu Hamburg. — Staatszugehörigkeit: Deutsches Reich. — Religion: evangelisch.

Zur selben Stunde aber, da ihr alle noch traurig das jähe Ende Graziella Holms besprecht, hat — euch unbewusst — bereits das Räderwerk der Polizeimaschine den Namen Graziella Holm in seine weitausholenden Kreise gezogen. Denn Graziella Holm wurde ermordet.

*

Landjägerei Grimmen i. Pom.

Bericht.

Am 18. Juni, nachmittags 3.20 Uhr, bemerkte ich auf einer Streife auf der Landstrasse zwischen Grimmen und Demmin, nahe der Juni Gut Francke gehörenden Tannenschonung, 9 Kilometer von Grimmen, einen brennenden Personenkraftwagen. Dieser war anscheinend gegen einen Baum an der linken Strassenseite gefahren. Der starke Gewitterregen hatte bei meiner Ankunft die Flammen bereits so weit gelöscht, dass die Gefahr einer Explosion des Treibstoffbehälters nicht mehr bestand. Ich bemühte mich, den Brand völlig zu ersticken, was mir auch gelang. Am Lenksitz des Wagens sah ich eine anscheinend bewusstlose Frau sitzen. Weitere Insassen waren nicht zu sehen. Bei näherer Untersuchung stellte ich fest, dass bei der Frau der Tod bereits eingetreten war. Verletzungen konnte ich nicht wahrnehmen. Dieses erschien mir um so merkwürdiger, als die Frau bei dem Anprall des Wagens gegen den Baum zum mindesten durch die Glassplitter der zertrümmerten Windschutzscheibe verletzt sein müsste. Ich habe daraufhin die Leiche und den Wagen in dem gefundenen Zustand belassen. Ich bin auf meinem Fahrrad unverzüglich zu dem etwa fünf Minuten entfernten Gehöft des Pächters Kneese gefahren und habe von dort die Kriminalpolizei Stralsund sowie den Arzt Dr. Lange in Grimmen fernmündlich benachrichtigt. Dann bin ich sofort zur Unfallstelle zurückgefahren, wo ich Wagen und Leiche im gleichen Zustande vorfand.

gez. Sitka, Landjäger.

Kriminalpolizei Stralsund.

Bericht der Mordkommission.

Am 18. Juni, 3.45 Uhr, wurde die Krimpo Stralsund durch fernmündliche Meldung des Landjägers Sitka, Grimmen, davon benachrichtigt, dass auf der Landstrasse zwischen Grimmen und Demmin ein brennender Personenkraftwagen gefunden sei, der eine weibliche Leiche ohne ersichtliche Verletzungen enthielt. Es begaben sich darauf sofort an den Tatort: Krim.-Komm. Sartorius, Krim.-Ass. Wendhöfer, Gerichtsarzt Dr. Lueg und die Polizeiwachtmeister Stenzel und Fink.

Die Kommission traf um 4.10 Uhr am Tatort ein, wo sie die Landjäger Sitka und Scharnaus vorfand, und machte daselbst folgende Feststellungen:

Es handelt sich um den Personenkraftwagen IA 98 025, Marke Adler. Die Haube war leicht eingedrückt, ebenso der linke Kotflügel beschädigt. Die Windschutzscheibe war entzwei. Sonstige Beschädigungen wies der Wagen nicht auf. Es erscheint ausgeschlossen, dass der Wagen durch den stattgefundenen leichten Anprall gegen den Baum in Brand geraten sein konnte. Dies wird auch durch das Gutachten des Autosachverständigen (Blatt III b der Akten) bestätigt. Im Innern des offenen Wagens (Kabriolett) waren die Polster stark angesengt. Desgleichen die Polster der beiden Vordersitze.

Auf dem Lenkersitz hinter dem Lenkrad befand sich die Leiche einer jungen Frau in sitzender Stellung. Gerichtsarzt Dr. Lueg stellte fest, dass der Tod erst vor kaum einer Stunde, also etwa kurz nach 3 Uhr nachm., eingetreten sein konnte, und zwar, wie die Würgmale am Halse der Toten bewiesen, durch Erwürgen.

Aus dem in der Handtasche der Toten vorgefundenen Führerschein sowie einer Mitgliedskarte der Fachschaft stellten wir fest, dass es sich um die Tänzerin Graziella Holm, geb. 22. 5. 1915 zu Hamburg, zuletzt wohnhaft in Berlin-Steglitz, Ahornstrasse 133, handelte.

Es wurden ferner im Wagen bzw. in den Kleidungsstücken der Toten vorgefunden:

Eine rotlederne Geldbörse mit 64 RM. 55 Pf. (drei Zwanzigmarkscheine, vier Einmarkstücke und 55 Pf. Kleingeld). — Ein Taschentuch mit dem Monogramm G. H. — Ein Taschenkamm in roter Lederhülle nebst Taschenspiegel. — Ein silberner Lippenstift. — Ein Fläschchen Riechwasser (Eau de Cologne Russe). — Eine Ansichtskarte, den Berliner Tiergarten darstellend, abgestempelt Berlin W 8, 16. 6. 1935. Die Karte trug folgende Bleistiftzeilen: „Liebe Grazie! Zu deinem ersten Auftreten Hals- und Beinbruch. Wir hoffen, dich bald in Berlin bewundern zu dürfen. Nur nicht bange machen lassen! Erwin. Gerda.“ — Ein Brillantring, Gold, 16kar. mit zwei Diamantsplittern. Ohne Signierung. — Eine Armbanduhr, achteckig, Gold, 14kar., Nr. 8 466 354 IL. — Ein Hausschlüssel und zwei kleine Kofferschlüssel. — Ein gedrucktes Programm des Kabaretts „Plaza“ in Stralsund.

Die Tote war bekleidet mit weissem Flanellrock, weisser Bluse, hellroter Sportjacke (Wolle), weissen Strümpfen und Schuhen, hellroter Mütze (Baskenmütze). Auf dem Boden unter dem Führersitz fanden sich noch ein Paar Damenhandschuhe aus hellgelbem Schweinsleder.

Nach eingehender Untersuchung sowohl der Leiche wie des Wagens und der Umgebung des Tatortes kam die Kommission zu folgenden Ergebnissen:

Die Graziella Holm ist in ihrem Wagen durch Erdrosseln gewaltsam getötet worden, und zwar mit Hilfe eines Strickes oder Riemens. Die Tat ist in der Zeit zwischen 3 Uhr und 3.20 Uhr verübt worden. Der Täter hat darauf den Wagen in Brand gesteckt, wahrscheinlich, um die Spuren seiner Tat zu verwischen. Das Gelingen dieses Planes wurde durchkreuzt durch den kurz nach 3 Uhr unerwartet einsetzenden wolkenbruchartigen Regen, der die Flammen erstickte, bevor sie den Treibstoff erreichen konnten. Geraubt wurde anscheinend nichts, da die Wertgegenstände der Toten (siehe S. 2 des Berichtes) vorhanden waren.

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