Axel Rudolph
Roman einer Tanzkapelle
Saga
Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle
German
© 1937 Axel Rudolph
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711445273
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com
Madame Kerkh dreht das Programmheft nervös in ihren Fingern. Um sie das leise Summen des Geplauders, das Sitzeklappen der von den Wandelgängen hereinströmenden Besucher. Durch die geöffneten Türen dringt das erste lang anhaltende Klingelzeichen, das die Pause beendet.
„Das ist ja längst vorbei!“ ärgert sich der wohlbeleibte, zappelige Herr de l’Orme und greift über Madames Hände hinweg, um die nächste Seite aufzuschlagen. „Hier fängt’s an. Zweiter Teil. Zuerst Mozarts Kleine Nachtmusik. Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir jetzt noch hierher mußten, Yvonne! Es war doch so nett in der Eden-Bar!“
Madame Yvonne Kerkh zuckt lächelnd die Achseln und blättert langsam in dem kleinen Heft zurück bis zur Rückseite des Umschlages, auf dem die Namen der Mitwirkenden stehen.
Abschiedskonzert der Kapelle Begas.
Leitung: Silvester Begas.
Albrecht Erlenkamp, Klavier.
Cäsar Testing, Violine, Klarinette.
Hans Böge, Cello, Gitarre.
Urban Kellner, Saxofon.
Beppo v. Pollinger, Violine, Schlagzeug.
Harry Glant, Akkordion.
Max Schamek, Baß.
Das zweite Klingelzeichen. Räuspern und Zurechtrücken.
Mit der Gelassenheit von Leuten, die ihrer Kunst gewiß sind, nehmen die Musiker oben auf der Bühne Platz. Leise beginnen die Instrumente zu zirpen. Bis der schlanke, elegante Silvester Begas dort oben den Bogen hebt. —
Selbst das leiseste Geflüster ist verstummt. Herr de l’Orme hat sonst die ihm oft selbst recht peinliche Angewohnheit, schöne Melodien leise mitzusummen, aber selbst er lauscht stumm den perlenden Tonreihen, die da oben aufspringen. Die Burschen können was. Kein Zweifel, die Beliebtheit, der sich Silvester Begas und seine Kapelle erfreut, ist berechtigt, durchaus berechtigt. Aber hin und wieder muß Herr de l’Orme doch ganz diskret den Kopf zur Seite wenden und seine Dame anschauen. Er tut das mit einem ungläubigen Staunen. Madame Yvonne Kerkh, die nervöse, ewig rastlose, fahrige Yvonne Kerkh, deren Mund selbst bei einer Shakespeare-Vorstellung nicht restlos stillesteht, die es fertiggebracht hat, in der Grand Opéra von Paris mitten im zweiten Akt von Tosca rücksichtslos davonzulaufen — diese Madame Kerkh sitzt regungslos da und starrt schon seit zehn Minuten die Geiger dort oben so entrückt an, als sei man mindestens in der Gralsburg von Bayreuth. Herr de l’Orme versteht das nicht recht, aber er fühlt sich angenehm enttäuscht. Also auch musikalische Tiefen hat die göttliche Yvonne! Oh, er hat ja längst gewußt, daß sie eine wundervolle Frau ist. Die anderen, die sie als fahrig, oberflächlich, manchmal sogar mit dem häßlichen Wort „hysterisch“ bezeichnen, sind Narren und Neider. Aber daß Yvonne auch die Musik so liebt, das ist schön, das ist einfach wundervoll. Es ist sozusagen die einzige Tugend, die ihrem Kranz in de l’Ormes Augen noch gefehlt hat. Voll tiefer Befriedigung versenkt sich Herr de l’Orme ganz in die Töne, die wundersam zart und mit spielerischer Leichtigkeit über den weiten, dichtgefüllten Saal dahintanzen.
Madame Yvonne Kerkh sitzt allerdings so regungslos, wie sie noch nie in einem Konzert gesessen hat, aber an ihrem Ohr gleiten die Töne vorbei, wie die leichten Wellen eines Baches an einer Felsenklippe, wenn es nicht unhöflich und falsch wäre, Madames wirklich reizende, zartgefärbte Ohrläppchen mit einem rauhen Gestein zu vergleichen. Ihre Augen aber bohren sich durch das Dunkel. Keine Sekunde weichen sie von den jungen Männern im Abendanzug dort oben auf der Bühne. Der erste ganz links, das ist er! Hans Böge, der Cellist! Madame Yvonne sitzt in der zweiten Parkettreihe. Befehlend halten ihre Augen den jungen Mann dort oben fest. Ob er weiß ...? Yvonne Kerkh konzentriert ihren ganzen Willen auf ein Ziel, so sehr, daß ihre Züge sich hart spannen, ihr Mund einem schmalen, bösen Strich gleicht. Wie glühende Kohlen brennen ihre Augen. Da! Jetzt hat er sie gesehen! Der Cellist hat eine unwillige Kopfbewegung gemacht, als wolle er etwas wegscheuchen, das gegen ihn anstürmt. Dann sind seine Augen in verwundertem Fragen seitwärts geglitten, hinab in den Saal. — Madame Yvonne kneift die Lippen noch stärker zusammen. Ihre Finger suchen instinktiv in dem auf ihrem Schoß ruhenden Täschchen nach irgend etwas ...
*
Silvester Begas wirft über seine Geige hinweg einen kurzen, unwillig fragenden Blick auf den Cellisten. Hans Böge fühlt ganz genau, daß sein Bogen eben etwas härter über die Saiten ging, als das Piano an dieser Stelle vorsehrieb, und wird unwillkürlich rot. Es ist eine Eigentümlichkeit von Hans Böge, dem lustigsten Schwerenöter der Kapelle Begas, daß er manchmal rot wird wie ein ertappter Schuljunge. Er reißt sich zusammen und beschließt, auf keinen Fall noch einmal in den Saal hinunterzuschauen. Als aber eine längere Klavierpassage kommt, bei der er ausruhen kann, wandern seine Augen doch wieder abwärts.
Sie ist es wirklich! Madame Yvonne Kerkh aus Brüssel! Hans Böge begegnet eine Sekunde ihrem sprühenden Blick und fühlt eine unbehagliche Leere in der Magengegend. Keine Bewegung macht er, und doch meint er den Brief in seiner Brusttasche boshaft knistern zu hören. Diesen Brief, den er gestern aus Brüssel erhalten hat. Wie kommt die Frau so schnell hierher? Der Teufel hole die ganze Fliegerei! Zur Zeit der Postkutsche wäre so eine „angenehme“ Überraschung einfach ganz unmöglich gewesen!
Hans Böge hat dem Brief keine besondere Bedeutung beigemessen. „Ich muß dich wiedersehen. Ich komme zu dir nach Berlin,“ stand darin. Er hat sich darüber nicht aufgeregt. Gestern kam der Brief, heute ist das Abschiedskonzert, und morgen — pah, morgen ist man schon in Dänemark, im Seebad Fanö, wo die Kapelle Begas für den nächsten Monat verpflichtet ist. Aber jetzt — Gottogottogott, sie ist also wirklich schon da, die Liebe, die Teure! Und was soll jetzt ...?
Hans Böge fährt ein gewaltiger Schrecken in die Glieder. Um ein Haar hätte er seinen Einsatz verpaßt. Ein wahres Glück, daß Begas gerade mit seiner Geige dem Publikum zugewendet steht. Hans beißt die Zähne aufeinander und spielt mit Todesverachtung. Kalter Schweiß beginnt langsam auf seiner Stirn zu perlen. Ob er hinsieht oder nicht, er fühlt immer die glühenden Augen, und mitten in den zarten Geigenklängen hört er eine boshafte, kichernde Stimme in seinem Innern deutlich die Worte zitieren, mit denen der Brief von Yvonne Kerkh schließt:
„Ich lasse dich nicht los! Lieber erschieße ich dich mitten auf der Straße!“
Sie wird doch nicht? Eine Übertreibung, eine von Madame Yvonnes gewöhnlichen hysterischen Phrasen! Aber immerhin — sie wird doch nicht wirklich so von allen Göttern verlassen sein, um ... Seine Augen gleiten wieder seitwärts. Sie sind jetzt schon an das Halbdunkel da unten gewöhnt, so daß er Yvonne Kerkh ganz deutlich sehen kann. Vornübergebeugt sitzt sie, stiert ihn an mit Augen — hu, wie eine Schlange, die ein Kaninchen fressen will! Jetzt hebt sie ein wenig ihre Handtasche, steckt die Rechte hinein, langsam, ohne den Blick von ihm zu lassen. Hans Böge wagt nicht mehr hinzusehen. Vielleicht hat sie einen Revolver in der Handtasche. Der verrückten Halbpariserin ist alles zuzutrauen! Hans blickt starr vor sich hin und spielt, spielt mit der Kraft der Verzweiflung, aber seine Gedanken sind weder bei Meister Mozart noch bei Silvester Begas, der ihm immer schärfere Blicke zuwirft. Gottlob, jetzt nur noch das Letzte, nur noch eine Minute ... Die Töne brausen auf, schlagen in harmonischen Akkorden zusammen. Silvester Begas setzt die Geige ab. Rauschender Beifall brandet im Saal auf ...
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