» Vamos! «, rief der Mann – diesmal mit Nachdruck.
Cara zog ihre Hand zurück. »Mach es gut, Liebes. Pass auf dich auf!« Dann drehte sie sich um und eilte hinter dem Mann her, der ihr einen Schwall Wörter an den Kopf warf, die sich nicht freundlich anhörten.
In diesem Moment ertönte in der Nähe das Signal von Polizeisirenen. Ich musste hier weg. Und zwar schnell! Die Polizei würde sich keinen Deut um die Rechte einer Süchtigen scheren, die sich direkt an einem Tatort aufhielt.
Benommen richtete ich mich auf und humpelte am Lieferwagen vorbei. Das Blaulicht warf verwirrende Lichter an die Wände und auf die Menschen, die sich schemenhaft aus der Dunkelheit schälten. Die Explosion hatte Neugierige angelockt. Ich verbarg mein Gesicht, indem ich meinen Kopf zur Seite drehte. Trotzdem sahen mich Dutzende Menschen, einige von ihnen schossen Fotos von mir. Fluchend schmierte ich mir mehr Blut ins Gesicht, um mich für Fahndungsaufnahmen unkenntlich zu machen, und beeilte mich fortzukommen.
Als ich um die Ecke bog, rauschte plötzlich ein Gleiter vorbei, so nah, dass ich den Wind spürte, den seine Hover-Triebwerke erzeugten. Ich stolperte und prallte gegen jemanden, der neben mir stand.
In dem Moment eröffnete der Gleiter das Feuer. Die Menschen um mich schrien auf und warfen sich zu Boden. Ich stolperte vorwärts, wagte es nur kurz, zurückzublicken.
Die Geschosse schlugen weit hinter mir ein. Etwas explodierte, die Blaulichter des Lieferwagens in der Gasse erloschen. Ich zögerte, als Gegenfeuer aufbrandete und dann abrupt stoppte.
Es trafen jetzt immer mehr Polizeigleiter ein, und ich wusste, dass der Bereich jeden Moment gesperrt werden würde.
Mein Knie ächzte und schnaufte, während ich forteilte, fort von diesem Ort, fort von Cara, die wahrscheinlich schon nicht mehr lebte.
Der Verkehr an Gleitern, Bodenfahrzeugen und Fußgängern war auf der Hauptstraße hoch, deshalb bog ich ein paar Kreuzungen weiter in eine ruhige Seitenstraße.
Hier herrschte die typische Berliner Trostlosigkeit, an die ich mich mittlerweile gewöhnt hatte. Nur jede vierte Straßenlaterne funktionierte, ein paar Neonleuchten warben für Synth-Bier mit niedrigem Mikroplastikanteil. Andere Reklamen versprachen schnelle Befriedigung. Ausgebrannte Fenster starrten mich an, Graffiti-Zeichnungen markierten die Reviere mehrerer Banden.
Ich blickte zurück, vergewisserte mich, dass mir niemand gefolgt war. Dann eilte ich zu einem ehemaligen Virtual-Reality-Studio, das nach dem Nano-Schock aufgegeben worden war, und zwängte mich durch eine halb eingeschlagene Tür.
Der Raum war voller Kabelstücke und Elektroschrott. Die lokalen Banden hatten hier gewütet und vor langer Zeit schon alles Wertvolle entfernt.
Ich lehnte mich an die Wand und verbarg mein Gesicht in den Händen.
Mein Leben, wie ich es kannte, war vorbei. Ich hatte nicht nur meinen Auftrag nicht erfüllt, ich war auch Zeugin von Caras Verrat geworden. Sie war bei den Portugiesen, den ärgsten Feinden Insomnias! Und der würde mir, Caras bester Freundin, niemals glauben, dass ich nichts damit zu tun hatte. Ich wäre ein Sicherheitsrisiko. Insomnia würde mich Large zum Fraß vorwerfen.
Ich schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken an Larges gierigen Blick. Ich konnte nicht mehr zurück. Das Schlimmste aber war, dass ich kein AS-X mehr besaß und ich merkte, wie mein Körper danach lechzte. Wie konnte ich schnell Geld für AS-X auftreiben?
Ich wischte mir Tränen aus den Augen. Rotes Neonlicht reflektierte in der Pfütze vor der Tür. Verbittert las ich die Erotikreklame: Geile Schlampen mit garantiert echten Bodies.
Als würde es mich verspotten, entließ mein Knie ein lautes Zischen. Ich lachte hart. »Hast ja recht. Nicht mal als Nutte nehmen sie einen Schrotthaufen wie mich.«
Die roten Reflexionen zerstreuten sich, als jemand in die Pfütze trat. Die Überreste der Tür knarrten, dann stand ein Schatten vor mir.
Ich schrie auf, presste mich enger an die Wand. Das Wesen hatte mich gefunden!
Da brach der Schemen zusammen und sackte auf den Boden. Irgendetwas tropfte auf meine Schuhe.
Jemand räusperte sich und flüsterte: »Wenn du fertig bist, mit dir selbst zu sprechen, würde es dir was ausmachen, mir zu helfen?«
Ich atmete scharf ein. »Kern? Bist du das?«
Der Schatten ächzte und bewegte sich ein wenig. Ich trat näher heran und erkannte ein Tarnfeld, das ähnlich dem des Wesens war, das uns angegriffen hatte. Die Konturen von Kern waren nur verschwommen erkennbar, sobald er sich bewegte. Vorsichtig streckte ich meine Hand vor und berührte ihn.
»Ein Tarnfeld! Wie … Woher hast du das?«
Kern lachte. Er hustete heiser. »Das fragst du mich? Ausgerechnet du?«
»Was meinst du damit?« Meine Hand lag auf seinem Arm, ich spürte, wie sie feucht wurde. Vorsichtig zog ich sie zurück und beobachtete, wie Blutspuren erschienen. Die Tarnung schien nur direkt an seinem Körper zu funktionieren.
»Als der goldene Bastard uns angegriffen hat, warst du diejenige, die zuerst getarnt war. Du bist von einem Moment zum nächsten unsichtbar geworden, obwohl ich deinen Körper genau spürte. Das war, bevor du mich umgestoßen hast.«
Getarnt? Ich?
Ich erstarrte und erinnerte ich mich an mein Versteck im Lager. Hatte das Wesen mich deshalb nicht getötet, weil es mich zu dem Zeitpunkt einfach nicht sehen konnte? Aber wie war das möglich?
Kern sprach mit heiserer Stimme weiter. »Leider hat meine Kugel ihn verfehlt, und er konnte seine Klinge einsetzen, bevor du mich zu Boden stoßen und mich auch unsichtbar hast werden lassen.«
»Wo hat er dich erwischt?«
»An meinem Oberarm und am Rücken. Aber wenn du mir wirklich helfen willst, heb die Tarnung auf. Ich sehe die Wunde am Arm ja selbst nicht. Verdammt, ich sehe gar nichts von meinem eigenen Körper!«
»Kern, das ist unmöglich.« Mir wurde schwindlig. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nur eine Maskenbauerin mit einem Haufen Schrott im Körper. Die Tarnung muss irgendwie von dem Wesen auf dich übergegangen sein!«
»Nein. Das Ding wollte uns töten, nur die Tarnung hat das verhindert. Ich weiß nicht, was du gemacht hast, nur, dass du uns dadurch gerettet hast. Das Problem ist, dass du es rückgängig machen musst. Und zwar bald, meine Wunden müssen schleunigst genäht werden.«
Blut tropfte auf den Boden, vermischte sich mit dem Regen, der über die Türschwelle nieselte.
Plötzlich fuhr ein Windstoß durch den Raum. Scheinwerfer erhellten den Boden. Ein Gleiter setzte direkt neben der Tür zur Landung an.
»Verdammt. Sie haben trotz des Regens meine Blutspur gefunden! Versteck dich!«
Kern war kaum aufgestanden, da sprang ein Mann in Polizistenkampfrüstung aus dem Fluggerät und warf sich gegen die Überreste der Tür.
Als die zersplitterten, wurde mir klar, dass ich nicht mehr fortlaufen konnte.
Die Tarnung funktioniert nur direkt am Körper.
Ich klammerte mich an Kern, ignorierte das Zucken, als ich seine Wunde am Rücken berührte. Ich spürte, wie er zitterte, wie er darum kämpfte, nicht zusammenzubrechen. Ich gab ihm Halt und fiel selbst fast hin.
Vorsichtig schielte ich nach unten. Ich sah den Boden nur mehr unscharf wie durch ein Wasserglas. Unsere umschlungenen Körper waren unsichtbar.
Der Polizist kam näher, die Lampe oberhalb seines Gewehres blendete mich, und eine krächzende Stimme tönte unter dem Helm hervor.
»Blutspuren des Verdächtigen gesichtet in Sektor Fünf-G-Sechs, im VR-Cullinary. Frisch. Der ist vor Kurzem hier gewesen.«
Der Mann kam näher, ich spürte, wie Kern immer stärker zitterte. Ich wusste, dass Bewegungen uns verrieten, daher presste ich meine Hand gegen seine Brust.
Ich ignorierte die wohligen Gefühle, die die festen Muskeln in mir auslösten, und versuchte ihm Stärke und Ruhe zu vermitteln.
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