Lena konzentrierte sich auf ihr dringendstes Anliegen. «Miss Blumenroth benötigt umgehend den Beistand eines Arztes. Gibt es jemanden auf der Plantage, der ihr helfen könnte?»
«Unser Hausarzt sitzt in Fort Littleton», erwiderte Estrelle unbeeindruckt. «Das ist zehn Meilen entfernt. Wir könnten sofort einen Boten schicken, wenn Sie das wünschen. Aber es wird eine Weile dauern, bis er mit dem Doktor zurückkehrt.»
«Ich wünsche es. Je eher er losreitet, umso besser.» Lena war erleichtert, dass das Personal offenbar bereit war, ihre Befehle ohne Rückversicherung bei Edward oder seinem Vater zu befolgen. Wobei es sie brennend interessierte, warum die beiden nicht vor Ort waren. «Darf ich fragen, wo sich der Herr des Hauses aufhält? Ich hatte gehofft, ihn bei meiner Ankunft hier vorzufinden.»
«Es tut mir leid, Mylady», antwortete Estrelle kühl. «Master Edward hat die Plantage heute Nachmittag wegen dringender Geschäfte verlassen, und sein Vater befindet sich zu Verhandlungen in Kingston, wo er den Gouverneur trifft.»
«Oh», sagte Lena, bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Doch Estrelle besaß offensichtlich einen scharfen Blick und ahnte wohl, was in ihrem Kopf vorging.
«Da Ihr Schiff Verspätung hatte und niemand wusste, wann es genau eintreffen wird», hob sie erklärend an, «sind Lord William und sein Sohn ihren Verpflichtungen nachgegangen. Ich nehme an, dass zumindest Master Edward bis spätestens morgen wieder zurück sein wird.»
Lena verstand natürlich, dass Edward und sein Vater viel beschäftigte Männer waren, die nicht tagelang in Falmouth auf ein einlaufendes Schiff warten konnten. Während sie noch grübelte, hörte sie die polternde Stimme des Aufsehers, der seinen Männern in einer unverständlichen Sprache Anweisungen gab, das Gepäck abzuladen und ins Haus zu bringen. Dr. Beacon hatte Lena von einer jamaikanischen Sprache der Einheimischen erzählt. Es handelte sich um eine eigene Form des Englischen, gemischt mit Afrikanisch, die kaum ein Weißer verstand. Sie war erstaunt, dass Mr. Hanson sich ihrer so sicher bediente, als hätte er sie mit der Muttermilch aufgesogen. Wahrscheinlich war es seinem langen Aufenthalt auf dieser Insel geschuldet, dachte sie schließlich.
Nun sah sie, wie Maggie von vier kräftigen Negern auf einer Trage die Treppe hinauftransportiert wurde. Wobei Jeremia die Männer mit Argusaugen beobachtete, damit sie auch ja pfleglich mit ihrer kostbaren Fracht umgingen.
«Master Edward hat mich angehalten, Sie nach Ihrer Ankunft unverzüglich in die Gegebenheiten von Redfield Hall einzuweisen», unterbrach Estrelle ihre Gedanken. «Er meinte, Sie seien nicht allzu vertraut mit den Sitten und Gebräuchen auf einer karibischen Plantage.»
«Nun», erwiderte Lena, während sie der Negerin in die große Empfangshalle folgte, «ich vermute, da muss ich ihm recht geben. Da, wo ich herkomme, beschäftigt man keine Sklaven. Und ehrlich gesagt», fuhr Lena, ohne zu überlegen, fort, «bin ich mir noch nicht sicher, was ich davon halten soll.»
Sie blieb am Fuß der breiten Marmortreppe stehen, wo ihre Aufmerksamkeit von den mannshohen Ölgemälden gefesselt wurde, die den gesamten Aufgang schmückten. Unvermittelt hob Estrelle den Leuchter und deutete auf zwei der Frauenporträts.
«Das war Master Edwards Mutter», erklärte sie mit tonloser Stimme.
Eine schlanke, vielleicht dreißigjährige Frau lächelte gütig auf die Betrachter herab. Sie trug ein vanillegelbes Kleid und hielt einen filigranen, spanischen Fächer in der Hand, dessen Saum mit kleinen weißen Daunen geschmückt war.
«Sie war eine gute Herrin. Leider ist sie viel zu früh von uns gegangen. Sie starb bei der Geburt ihrer Zwillinge. Mädchen. Aber auch sie haben die Geburt nicht überlebt.»
«Wie schrecklich», sagte Lena. «Und die Frau dort oben?»
Sie deutete auf das Bild einer rotblonden, höchstens fünfundzwanzigjährigen Schönheit, deren Haar streng zum Knoten frisiert war und deren tief ausgeschnittenes himbeerfarbenes Kleid ihre milchfarbenen Brüste betonte. Ihr Blick wirkte irgendwie traurig.
«Das war Lord Williams zweite Frau. Auch sie ist noch während der ersten Schwangerschaft an einem Fieber gestorben. Gott, der Herr, sei ihnen gnädig», schob Estrelle rasch hinterher und bekreuzigte sich.
Lena spürte, wie leichtes Entsetzen in ihr aufstieg. Edward hatte ihr zwar erzählt, dass sein Vater Witwer war, aber von einer zweiten verstorbenen Frau und von toten Geschwistern hatte er nichts erwähnt.
Im zweiten Stock angekommen, stieß Lena einen leichten Seufzer aus, als ihr Blick auf den langen, persischen Läufer im Korridor und auf die vielen Mahagonitüren fiel, von denen nur eine geöffnet war.
Wie prächtig hier alles war! Hinter Estrelle betrat sie das Gemach, in dem Maggie soeben auf ein ausladendes Bett aus dunklem Ebenholz mit einem rosafarbenen Baldachin und seidenen Seitenschabracken gelegt wurde. Wieder staunte sie über den Luxus, den sie in dieser Abgeschiedenheit so nicht erwartet hatte: Auch hier glänzte ein blank polierter Mahagonifußboden und dicke orientalische Teppiche sorgten für eine gediegene Gemütlichkeit. Dazu elegante Schränke mit gedrechselten Verzierungen und gläsernen Buntfenstern, hinter denen sich kostbares Porzellan und Kristall verbargen. Ein filigraner Sekretär und ein rundes Tischchen mit zwei französischen Stühlen komplettierten die luxuriöse Suite. Unter dem Bett stand ein silberner Nachttopf in der Form eines schlafenden Schwans. Und hinter einem reich verzierten Paravent lockte ein ausladender Kupferzuber mit einem kunstvoll vergoldeten Ablaufhahn zu einem entspannenden Bad.
Estrelle schickte sich sogleich an, ein Fenster zu öffnen, sodass der kräftige Abendwind die schweren Samtgardinen in Wallung brachte.
Nur mühsam vermochte Lena ein Gähnen zu unterdrücken. «Ich schlage vor, Sie helfen mir dabei, Maggie ein Nachthemd anzuziehen», erklärte sie. «Dann möchte ich mich ebenfalls gerne zurückziehen. Ich will ausgeruht und frisch sein, wenn ich morgen auf meinen Verlobten treffe.»
«Sehr wohl, Mylady», erwiderte Estrelle und stellte die Kerze auf einem Nachtschränkchen ab. «Ihr Gemach ist gleich nebenan.» Sie deutete auf eine hohe Flügeltür. «Für die Zeit nach Ihrer Vermählung hat Master Edward ein gemeinsames Ehezimmer im dritten Stock einrichten lassen.»
Lena hob eine Braue. Also auch hier hielt man sich an Moral und Sitte; Maggie wäre entzückt, wenn sie das hörte. Doch ihre Gesellschafterin lag noch immer bleich und halb ohnmächtig auf dem seidenen Lager und stöhnte nur leise.
«Ihr könnt gehen», befahl Estrelle den jungen Sklaven. «Und schickt mir Larcy herauf.»
Wenig später betrat ein mageres, schwarzes Mädchen mit kurz geschorenem Kraushaar den Raum. Sie trug ein graues Sackkleid und lief barfuß. In einer Hand hielt sie eine gläserne Karaffe mit Zitronenlimonade, in der anderen einen Teller mit frisch geschnittenem, exotischem Obst.
Estrelle wies sie mit barscher Stimme an, die Sachen auf dem Nachttisch abzustellen und ihr beim Entkleiden der Lady zu helfen.
Lena hielt sich zurück. Erst beim Öffnen des Mieders kam sie Larcy zu Hilfe, die darin offenbar nicht geübt war. Mit vereinten Kräften zogen sie Maggie das Kleid vom Körper und hüllten sie in ein seidenes Nachthemd, das auf einem Stuhl bereitgelegen hatte.
Estrelle schob Maggie noch zwei dicke Daunenkissen hinter den Rücken, dann entnahm sie dem Vitrinenschrank ein Kelchglas, schenkte etwas Limonade ein und hob Maggies Kopf an.
Lena setzte sich derweil auf die andere Seite ans Ende des Bettes und beobachtete die Bemühungen der schwarzen Hausangestellten. Sie hoffte, dass ihre Freundin die Limonade bei sich behalten würde. Als Estrelle das Glas absetzte, drehte Maggie den Kopf zur Seite und sah Lena aus halb geschlossenen Lidern an.
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