Kann man – mit Quast – an Leben-Jesu- und Marienleben-Erzählungen die grundsätzliche Frage stellen, wie unter der unhintergehbaren Voraussetzung der Unmöglichkeit, ein (emphatisch konzeptualisiertes) Ereignis medial zu fassen, Texte dennoch von der Ereignishaftigkeit der Menschwerdung zu erzählen versuchen, so lässt sich diese Frage auch im Hinblick auf die Erlösung stellen. Doch wäre sie hier zu erweitern: Es wäre zu fragen, wie Erzählungen, die Welt- und Erlösungsgeschichte als Realisierung eines der Vorsehung unterliegenden und damit narrativ voraussagbaren Plans inszenieren, zugleich noch die emphatischen Aspekte des Ereignishaften der Menschwerdung vermitteln können (also die Selbstopferung Gottes als Gabe, die mögliche Unmöglichkeit der Erlösung): Wie kann es erzähllogisch gelingen, gleichzeitig Erwartetheit und Unerwartbarkeit, vorhersehbare Horizontalität und vertikalen Einschlag zu kommunizieren? Im Rahmen vormoderner Geschichtsentwürfe wäre damit nach der Inszenierung von Ereignis nicht nur sehr grundsätzlich im Hinblick auf dessen mediale (Un-)Anschreibbarkeit zu fragen, sondern ebenso nach einer paradoxen Verschränkung unterschiedlicher Aspekte des Ereignishaften, die mitkommuniziert, überlagert oder gegeneinander abgeblendet werden. Die Erlösung zeigt geradezu exemplarisch, dass die Frage nach einsinnigen Zeitkonzeptionen – und damit eng verbunden auch diejenige noch einsinnigen Ereigniskonzeptionen – für den Bereich vormodernen Erzählens wenig zielführend ist, dass es vielmehr gilt, „heterogene Zeitkonzeptionen zu beleuchten, die Zeitschichtungen, Gleichzeitigkeit der Zeitdimensionen, Zeitfaltungen, parallelisierende und konkurrierende Zeitqualitäten, kollabierende, konzentrische, auslaufende sowie disruptive Zeitenverläufe“ zuzulassen.25 Ebenso überschichten sich in diesem Text verschiedene Aspekte des Ereignishaften:26 Die Reihe der Propheten inszeniert das Ereignishafte der Gottesgeburt aus dem Gestus der Erwartung, als Aufschub und Verzögerung.27 Hier allerdings geschieht dies im Sinne eines Aufschubs, auf den tatsächlich die Aktualisierung des Erwarteten folgt.28 Die Erzählabschnitte über die Lebenszeit Marias und Jesu akzentuieren dabei durchaus eine Ereignishaftigkeit, die als ‚Unterbrechung‘ struktureller Ordnungen verstanden wird insofern sie nicht vollständig aus diesen ableitbar ist. Ihr ‚Überschuss‘ und ‚Neuigkeitsgehalt‘ bleibt jedoch diesen Strukturen verbunden und darin eben auch anschreibbar ( Dieß iſt ).29 Die spezifische Fügung der beiden Erzählabschnitte – Prophetenreihe und Leben-Jesu bzw. Marienleben – ermöglicht es damit, dass je unterschiedliche Aspekte des Ereignishaften in der Erlösung sukzessive entfaltet und gleichzeitig ihre enge Verflochtenheit hervorgehoben werden. Das Erlösungsereignis wird jedoch in der Erlösung nicht nur in einer historisch-chronologisch Erzählung thematisiert, die ihrerseits durch die Prophetenreihe als voraussagbare Anordnung ausgewiesen und dabei durch die Exponierung des Heilsgeschehens als Erwartung einer Ankunft perspektiviert ist. Vielmehr erscheint das Ereignis der Erlösung zugleich durch die allegorische Gerichtsszene dramatisiert, die es in wiederum eigener Weise inszeniert und ins Überzeitliche doppelt.
III Unerwartbares Erzählen
Der ‚Streit der vier Töchter Gottes‘ oder die sog. ‚Tribunalszene‘1 schließt unmittelbar an die Vertreibung aus dem Paradies an, genauer: an einen Erzählerkommentar, der den Sündenfall und den bösen Rat des Teufels beklagt. Nach einer kurzen Exposition, die das Gottesgericht mit seinem Gefolge aus 24 Ratgeber ( Ratma[nn] N 100vb, V. 385) und dem Ring der Cherubin und Seraphin einführt, wird zunächst der Thron Gottes beschrieben. Diese einzige mit rund 80 Versen einlässlichere descriptio der Erlösung verschränkt Elemente, die den Löwenthron Salomons oder das himmlische Jerusalem aufrufen, mit einer aufwändigen Maßwerkbeschreibung, die ein dichtes Fachvokabular aufweist. Entworfen wird ein eminent räumlicher Ort, der die Bühne bietet für die ungeschiedene Trinität (ebd., V. 375) und die mit ihr verbundenen Tugenden. An ihm herrscht ein eigenes Zeitregime, das, während es sich selbst narrativ in der Zeit entfaltet, über der erzählten Zeit der Welt steht – ein Ort, an dem Alles immerschon gesagt ist (vgl. etwa N 102ra, V. 539f.).
Gott selbst eröffnet danach mit der Anklage des Menschen eine Gerichtsszene, die – wie Urbanek zeigen konnte – an konventionellen juridischen Redeformen orientiert und streng symmetrisch gebaut ist.2 Die Reden der Schwestern, es handelt sich um die Allegorien von Barmherzigkeit, Recht, Wahrheit und Frieden, sind dabei nicht nur parallel strukturiert, sondern demonstrieren die Äquivalenz ihrer Geltungsansprüche auch durch die Verwendung des immer wieder gleichen Wortlauts (z.B. N 101vb, V. 530f.): Gedenke her [ re ] das ich din / Dochter heiſſen vnd bin und (z.B. N 102ra, V. 539f.): Gedencke was der wÿſſage / Von Dir prediget alle tage. Die Plädoyers für die Begnadigung des Menschen und diejenigen für seine Bestrafung sind jeweils in derselben Weise begründet und lassen so das Dilemma augenscheinlich werden, das der Sündenfall produziert hat. Wo Barmherzigkeit und Wahrheit, Friede und Gerechtigkeit alle gleichermaßen sagen können (z.B. N 101vb–102ra, V. 535–537): Wann ich vnd du vns ſcheiden / So iſt ny [ mm ] e an vns beiden / Wann ich bin du vnd Du biſt ich , konstituiert das Wesen Gottes selbst die Frage der Erlösbarkeit des Menschen als Aporie (ebd., V. 533f.). Als verwirrten Knoten, den es zu enquicken und entstricken gilt (N 103rb, V. 721–723), beschreibt entsprechend der trinitarische Sohn, der den Streit schließlich schlichten wird, das Problem, dessen Lösung in der Menschwerdung und in der Passion Gottes gefunden wird: Haſtu nit barmhertzigkeit [oder Recht, Frieden, Wahrheit; ChrL] / So iſt ein nichte din gotheit (hier: N 102ra, V. 533f.). Die Soteriologie des Textes changiert dabei zwischen verschiedenen (konventionellen) Begründungen dafür, warum eine solche Lösung erfolgreich sein kann.3 Die allegorische Konstellation vermag mit dem ,Töchter Gottes‘-Motiv die Unmöglichkeit bzw. Ausgeschlossenheit sowohl der Nichterlösung als auch der Erlösung des Menschen zu artikulieren. Der Erzähler kommentiert folgerichtig: Sagt an was mocht got da jehen (N 102vb, V. 6558).
Vor der Folie des nahen, dramatischen Modus der allegorischen Gerichtsszene präsentiert der Text die Lösung der Aporie als Ereignis eigener Art.4 Dies gelingt, indem der entscheidenden Rede des Gottessohns an kritischer Stelle, nämlich genau am Umschlagpunkt zwischen argumentativer Begründung von Verdammnis und argumentativer Begründung der Rettungsmöglichkeit des Menschen durch einen Exkurs des Erzählers eine prägnante Zäsur gegeben wird. Urbanek fasst diesen Einschub als Mittel auf, die antithetische Struktur der Rede zu akzentuieren, versteht ihn jedoch vor allem als Inserat „einer sprach-solistischen Kadenz“ des Erzählers.5 Mit dieser Zäsur einher geht jedoch zugleich eine im Überzeitlichen der himmlischen Gerichtssituation situierte Evokation von Zeitverhältnissen, die Dauer, präsentisches Jetzt und zeitliche Zerdehnung ineinander verschränken und die dort, wo es – am Ort des Ununterscheidbaren und immer schon gesagten – mangels linearer Temporalität rechtbesehen kein Ereignis geben kann, über das Erzählen Ereignishaftigkeit implementieren. Denn was nach der vorläufigen Versicherung des Sohnes gegenüber Wahrheit und Gerechtigkeit, dass der Mensch durch Ungehorsam den Tod verdient habe, eingefügt ist, gilt gleichermaßen für die Leidens-Frist wie den momentanen, in der Rede des Erzählers beinahe schon geschehenen Tod des Menschen, der nur durch die konjunktivisch erhoffte, nicht aber vollzogene Hilfe von Barmherzigkeit und Frieden noch abgewendet werden kann:
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