Herzlichen Dank an Birgit Rechtenbacher, München, für ihre Beiträge aus der Perspektive und Praxis des Grundschulunterrichts.
3., überarbeitete Auflage
Dieses Buch ist über epubli.de als book on demand und eBook veröffentlicht worden. Jede Form der Vervielfältigung oder Veröffentlichung auf drucktechnischem, elektronischem, optischem, photo-mechanischem oder ähnlichem Wege – auch auszugsweise – bedarf der ausdrücklichen, schriftlichen Einwilligung des Autoren.
Martin Ellrodt, im Februar 2016. Kontakt: www.ellrodt.de
Einführung in dieses Buch
Das Werk, das jetzt vor Ihnen liegt, möchte Sie und die Kinder, mit denen Sie arbeiten, in die Welt des Erzählens und der Geschichten führen. Die Wege dorthin sind vielfältig und beginnen an verschiedenen Ausgangspunkten; deshalb haben wir uns entschieden, die Wegbeschreibung nicht als Buch mit einer linearen Abfolge zu veröffentlichen, sondern als Sammlung von Übungen, Spielen, Projekten und Hintergrundtexten. Damit haben Sie die Möglichkeit, eine Route festzulegen, die den Bedürfnissen der Klasse am besten entspricht, und die Ihnen und den Kindern die größte Freude bereitet.
Ein Reiseleiter muss immer ein bisschen mehr als seine Gruppe wissen; daher haben wir speziell für Sie im Kapitel „Hintergrundwissen“ einiges zusammengetragen, was im Zusammenhang mit mündlichen Erzählungen zu erfahren nützlich ist.
Lebendig Erzählen bedeutet:
...Selbst-Erfahrung
Menschen erzählen, um sich ihrer selbst und ihrer Umwelt zu versichern; Erfahrungen, Ängste, Wünsche werden mitgeteilt und damit mit anderen geteilt. Sprechen auf der einen, Zuhören auf der anderen Seite sind dabei Vorgänge, die sich an der Oberfläche höchst komplexer Prozesse ereignen. Darunter stellen sich dem Erzähler wie auch dem Zuhörer ganz andere, mit Worten oftmals schwer zu beschreibende Aufgaben: Komme ich in Kontakt mit meinen inneren Bildern? Kann ich der Geschichte folgen, ohne dass mich die damit verbundenen Gefühle überwältigen oder zum Verstummen / zum Abschalten bringen? Wie kann ich am Erzählen die größtmögliche Freude über das „Hier“ und „Jetzt“ empfinden?
Die Komplexität dieser Prozesse und die individuell höchst unter-schiedliche Erfahrung des Erzählens wie auch des Zuhörens macht es unmöglich, einheitliche und objektive Kriterien für „gutes“ Erzählen zu finden; Fragen nach Deutlichkeit der Aussprache, Wortwahl, Sprechgeschwindigkeit bewegen sich immer nur an der physikalisch wahrnehmbaren Oberfläche des Prozesses. Daher halten wir es nicht für sinnvoll, Fortschritte der Schüler anhand von Bewertungsbögen oder Checklisten messen zu wollen. Erzählen und Zuhören haben einen ähnlichen ästhetischen Selbstwert wie Malen, Tanzen oder Spazierengehen. Entscheidend ist eigentlich nur die Frage: Tue ich es gerne? Empfinde ich Freude dabei? Wenn nicht, was kann ich daran ändern?
... Mündlichkeit
Im Mittelpunkt steht die Freude an der freien, spontanen Benutzung der Sprache. Eine Geschichte wird nie gleich erzählt, der Moment des Erzählens ist einzigartig und nicht wiederholbar. Die Mündlichkeit gehorcht anderen Gesetzen als die Schriftlichkeit und hat auch ganz andere Möglichkeiten der Gestaltung.
Dieses Buch ist ein Produkt der Schriftkultur, möchte aber in den Anregungen zur Vermittlung dem Konzept der Mündlichkeit gerecht werden. Das hat zur Folge, dass es in diesem Falle keine Kopiervorlagen gibt, die an die Kinder weitergegeben werden. Je weniger sie in diesem Zusammenhang mit vorgegebenen Texten zu tun haben, desto leichter wird es ihnen fallen, zu der ihnen jeweils eigenen Erzählsprache zu finden.
... Eigenständigkeit im Schulalltag
So verstandenes Erzählen führt in der Grundschule ein Schattendasein. Denn überwiegend findet mündliches Erzählen seinen Platz als Vorbereitung auf die schriftliche Erlebniserzählung, die den Schwerpunkt im Teilbereich Sprachgebrauch darstellt. Für andere Formen bleibt bei der Umsetzung der Fülle an verbindlichen Lernstoffen des Lehrplans oft keine Zeit mehr. Sehr verbreitet ist außerdem der Montagmorgen-Erzählkreis, bei dem die Kinder vom Wochenende erzählen dürfen. Hier findet aber eher eine Aufzählung der Freizeitaktivitäten oder schlimmstenfalls die Nacherzählung der gesehenen Fernseh- oder Kinofilme statt, und die Gelegenheit wird möglicherweise auch nur von den Kindern genutzt, die ohnehin gerne erzählen – glücklicherweise, denn sonst würde dieser Erzählkreis ohnehin viel zu lange dauern.
Auch unsere gesellschaftliche Situation, die immer mehr von audiovisuellen Medien und Virtualität geprägt wird, trägt nicht dazu bei, das mündliche Erzählen, wie auch die zwischenmenschliche Kommunikation allgemein zu fördern.
Um so mehr sollte in der Schule versucht werden, dem entgegen zu steuern und die Erzählressourcen aller Kinder, so versteckt sie auch sein mögen, herauszulocken, aufzugreifen, zu unterstützen und zu fördern.
Dazu sind einige Voraussetzungen nötig: gedankliche, räumliche, pädagogische und organisatorische. Hier soll versucht werden, diese ganz kurz in einigen Thesen zu formulieren.
Um die Kinder zum Erzählen zu motivieren und ihre diesbezüglichen Fähigkeiten zu fördern brauchen wir vor allem....
... Zeit und Geduld
Es ist besonders wichtig, dass im knapp bemessenen Stundenpool genügend Zeit für das Erzählen abgezwackt wird. Das heißt, dass Erzählrunden und Erzählspiele, möglicherweise wie Rituale, ihren festen Platz in der Planung einer Unterrichtswoche bekommen, aber gleichzeitig der zeitliche Rahmen offen bleiben kann. Es gibt Erzählrunden, die sich zäh hinziehen und schnell beendet sind, weil niemand eigentlich etwas erzählen will, aber auch solche, die vergnüglich sind und in der vorgesehen Zeit nicht beendet werden können.
Zu berücksichtigen ist hierbei auch das Konzentrations- und Durchhaltevermögen der Kinder als Zuhörer. Dieses kann durchaus erheblich von denen Erwachsener abweichen: Was uns eher langweilt, finden Kinder oft interessant. Sie können zum Beispiel einer – in den unseren Augen eher spannungslosen – Aufzählung von Ereignissen lange lauschen, wenn sie den Erzähler mögen, und er ab und zu eine lustige Szene einbaut und selbst darüber lachen muss. Sprachlich schwächere Schüler haben dadurch eine Chance, bei den anderen Kindern gerne gehört zu werden. Versuchen Sie, sich mit Geduld zu wappnen – wenn Sie ein wenig Gespür dafür entwickeln, was die Klasse „aushält“ – ist die erste Voraussetzung für erfolgreiches Erzählen schon geschaffen.
... Vorbilder
Haben Sie schon einmal einem professionellen Geschichtenerzähler oder Geschichtenerzählerin einen Abend lang gelauscht? Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit. Es muss auch gar kein Profi sein. Wenn man darauf achtet, wird man in seiner privaten Umgebung Leute ausfindig machen, die gerne und unterhaltsam erzählen. Und dann vielleicht entdecken, dass es einem selbst Freude bereiten kann. Für manche Eltern sind die eigenen Kinder – und damit verbunden die Erinnerungen an die eigene Kindheit – Anlass, sich auf das Erzählen zu besinnen. In der Familie gibt es keine große Hemmschwelle und Kinder sind besonders dankbare Zuhörer. Von einer spannend erzählten Geschichte sind sie noch mehr fasziniert als von einer vorgelesenen.
Im Schulalltag sind Sie als Vorbild gefordert. Wenn Sie ab und zu selbst Geschichten erzählen, hat das eine stark motivierende Wirkung auf Ihre Schüler. Durch die Verbreitung elektronischer Unterrichtsmedien hat die Lehrererzählung als methodische Variante der Stoffvermittlung vor allem im Sachunterricht zwar nicht mehr die Bedeutung wie früher, ist aber noch durchaus üblich. Wenn man gut vorbereitet ist und frei über einen Unterrichtsstoff erzählen kann, sind die Schüler sehr fasziniert; dies gilt um so mehr für literarischere Erzählungen. Am Anfang braucht es gründliche Vorbereitung und ein bisschen Übung, dann findet man Spaß daran, es fällt immer leichter und geht dann natürlich – wenn man ein gewisses Repertoire hat – auch spontan. Für‘s Repertoire empfiehlt es sich eine Sammlung von guten Kurzgeschichten anzulegen, die man gehört oder gelesen hat, evtl. in Form einer Kartei. Es werden von professionellen Geschichtenerzähler*innen auch Workshops angeboten.
Читать дальше