Ein Vademekum (vade mecum, lateinisch: Geh mit mir!) ist ein schönes, altes Wort, das einen kleinen, leicht transportablen Leitfaden und Ratgeber bezeichnet. Und nichts anderes soll dieses Büchlein sein: ein Leitfaden für alle, die sich mit der wunderbaren Kunst des Geschichtenerzählens beschäftigen wollen.
Über den Zauber einer mündlichen Erzählung sollen hier nicht viele Worte verloren werden: am besten erlebt man ihn mit eigenen Ohren.
In diesem e-Book finden sich einige grundsätzliche Gedanken zum Erzählen von Geschichten, gefolgt von drei elementaren Übungen und einigen erzählenswerten Geschichten in Knochenform.
Du wirst feststellen, dass im Folgenden immer wieder vom Unterwegs-Sein, vom Spazierengehen, von Wegen und Bewegung die Rede ist.
Das ist kein Zufall. Geschichten erzählen heißt, auf Reisen zu gehen, und beim Luftholen sagst Du den anderen: Vade mecum, geh mit mir!
Unterwegs im (Un)bekannten
Wer eine Geschichte erzählt, führt andere durch eine ihnen zumeist unbekannte Gegend (ein Haus, eine Stadt, einen Dschungel, einen anderen Planeten). Als Reiseleiter*in solltest Du diese Gegend so gut kennen, dass Du jederzeit weißt, wo Du entlang gehen willst.
Andererseits solltest Du fähig sein, das, was Du über die Gegend sagen willst, an die Bedürfnisse Deiner Reisegruppe anzupassen. Es ist wichtig darauf zu achten, dass niemand unterwegs verloren geht, und gut zu wissen, wo es Abkürzungen gibt, wenn die Gruppe erkennbar müde wird.
Als Erzählender hältst Du also zwei Fäden in der Hand: einen (roten), der durch die Geschichte führt, und einen (orangenen?), der Dich mit Deinem Publikum verbindet.
Wenn der Faden zum Publikum reißt, hat das meist einen von zwei Gründen: die einen hören sich am liebsten selber reden und vernachlässigen dabei die, um derentwillen sie eigentlich erzählen. Weitaus die Mehrheit hat aber schlicht Angst, dass ihnen eigentlich keiner zuhören will.
Je nach Typ versuchen dann manche, so schnell wie möglich fertig zu werden, oder aber sie tragen extra dick auf und versuchen, sich mit Mitteln interessant zu machen, mit denen sie sich eigentlich gar nicht wohl fühlen.
Das geschieht, weil wir uns beim Erzählen, bei der freien Rede als Person von gleich zu gleich, viel weniger geschützt fühlen als bei jeder anderen Form der öffentlichen Selbstäußerung - es gibt keinen vorgegebenen Text, kein Kostüm, keine Uniform, keine Requisiten, keine Maske.
Die gute Nachricht lautet: Du bist nicht ungeschützt. Du erzählst eine Geschichte. Zwar bist Du als Person im Mittelpunkt und sehr gut sichtbar, aber wenn Du all Deine Aufmerksamkeit auf die Geschichte und Deine Zuhörer*innen richtest, dann werden sie Dir folgen: sie richten ihre eigene Aufmerksamkeit ebenfalls auf die Geschichte - und auf sich.
Das ist eine der besonderen Eigenschaften des Erzählens: sie ermöglicht den Hörenden eine Begegnung mit sich selbst. Und die Geschichte beschützt Dich.
Mach Dir keine Sorgen über Erzähl“techniken“, über die „richtigen“ Pausen, über die Stimmlage, und was es noch alles an Hinweisen gibt, die immer nur die Oberfläche berühren, aber nicht den Kern der Sache. Wenn Du mit Freude und Zuneigung bei Deinem Publikum und bei Deiner Geschichte bist, kommt alles andere von alleine.
Abgesehen von den improvisierten Geschichten, die ein eigenes Kapitel darstellen, welches in diesem Büchlein nicht behandelt wird, gilt: je besser Du die Geschichte kennst, desto glaubwürdiger und fesselnder kannst Du von ihr erzählen.
Dazu werden im Lauf der folgenden Kapitel einige Übungen vorgestellt, die Dir dabei helfen. Vorher aber wird noch ein Geheimnis verraten, das keines sein sollte: erzählen heißt nicht, etwas auswendig zu lernen. Eine Geschichte besteht aus „Atem und Erinnerung“ (Ben Haggarty), und diese Erinnerung ist nicht als Text abgespeichert, sondern als Vorstellung, als Bild, Geräusch, Gefühl.
Geschichten wurden über Jahrtausende mündlich weitergegeben, weil es keine andere Möglichkeit gab. Dabei haben sie immer wieder ihre Gestalt und manchmal auch ihren Kern verändert, um am Leben zu bleiben. Nur so konnten auch Formen wie Mythen und Märchen entstehen, die die Kraft haben, Menschen über alle Altersstufen und Lebenswelten hinweg in den Bann zu ziehen.
Du bist die Erzählerin, Du bist der Erzähler. Du bestimmst, was Du erzählst, und wie Du es tust.
In Geschichten spazieren gehen
Das ist die erste und wichtigste Übung für das Erzählen von Geschichten überhaupt. Und sie ist nicht schwer: wir alle haben eine Art Kino im Kopf eingebaut, das uns, wenn wir mal den Schalter gefunden haben, mit Bildern, Geräuschen, Gerüchen, Gefühlen und Bewegungsempfindungen versorgen kann.
Dieses Kino funktioniert bei jedem von uns ein bisschen anders: die eine sieht alles bunt und detailliert vor dem inneren Auge, ein anderer hört mehr als er sieht, für wieder eine andere sind die Vorstellungen eher abstrakt, aber dennoch klar benennbar.
Entscheide Dich für die Geschichte, in der Du spazieren gehen willst, schließe die Augen und versuche, Dir alles vorzustellen, was dazu gehört: die Orte, an denen sie spielt, die Menschen, Tiere oder Zauberwesen, die in ihr handeln, die Ereignisse, von denen sie erzählt.
Werde nicht ungeduldig, wenn es nicht gleich funktioniert. Manchmal ist der Projektor eingerostet, Tagesform spielt auch eine Rolle.
Stell Dir alles so genau vor wie möglich, wenn die Bilder (oder alles andere) die Reihenfolge der Geschichte nicht einhalten wollen, dann ist das auch in Ordnung.
Wenn Dir jemand zuhören mag, dann beschreibe ihnen, was Du in Deiner Vorstellung wahrnimmst. Je mehr Du siehst, hörst, riechst, fühlst und schmeckst, desto besser kannst Du später die Geschichte erzählen.
Wenn Du mit dem Verfahren schon ein bisschen vertraut geworden bist und Dich wohl damit fühlst, kannst Du vom Spazieren zum Joggen übergehen. Siehe dazu das nächste Kapitel.
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