Mit den männlichen Angestellten kommt er schon aus. Aber diese Mädel, die alle Söna Sentland, eine nach der anderen und eine immer jünger als die andere, hier eingestellt hat und die ohne Ausnahme für sie durchs Feuer gehen, während er jeden Tag aufs neue seine Plage mit ihnen hat! Unerhört, dass in einer Zeit wie dieser, die den Frauen die einzige ihrer Art und Anlage entsprechende Stelle im Hause anweist, ausgerechnet bei Vandekamp und Co. noch soviel weibliche Kräfte ihr unheilvolles Wesen treiben. Aber Söna Sentland meint, dass für diese Art von Arbeiten junge Mädchen eben geschickter und gewissenhafter sind. Und was sie meint, ist bei Vandekamp und Co. Evangelium.
Er aber denkt gar nicht daran, sich derartiges von einem naseweisen Ding wie dieser Polin bieten zu lassen. Er wird ihr einen Teil ihrer Obliegenheiten nehmen und auf Mable Country übertragen. Die ist aus dem gefährlichen Alter heraus und hat erst vor wenigen Tagen unter der Anteilnahme des ganzen Kontors ihr 25jähriges Jubiläum als englische Korrespondentin gefeiert.
Er würdigt die überhebliche Helenka keines Blickes mehr, will sich in die andere Abteilung zu Mable Country begeben — da singt es drüben vom Rathausturm her, dessen Glockenspiel jede gerade und ungerade Stunde mit seinen Chorälen wechselt: „So nimm denn meine Hände.“
Und nachdem der letzte Ton verklungen, hallen neun eherne Schläge durch die nur von dem Klappern der Maschinen und dem Läuten des Fernrufers unterbrochene Stille des Kontors.
Eine Minute später betritt Friedrich Vandekamp die Räume, sendet seinen kurzgemessenen Gruss zu den Tischen und Pulten hinüber, an denen der Weg ihn vorbeiführt, und begibt sich in sein Privatkontor.
Sofort nimmt Theobald Kernreif die bereits fertig gepackte Mappe, folgt dem Chef, ihm den Geschäftsbericht zu erstatten.
Der aber schneidet ihm das erste Wort ab:
„Haben Sie Erkundigungen über Philipp Brackmann eingezogen?“
„Jawohl, Herr Vandekamp. Ein Konkurs ist bisher nicht angemeldet. Man meint auch, dass es zu ihm nicht kommen wird, sondern nur zu einer Geschäftsauflösung, da die notwendigsten Verpflichtungen —“
„Und er selber?“
Theobald Kernreif nimmt jene bedenklich bedauernde Haltung an, mit der er sich gegen jede Art geschäftlicher oder sonstiger Unannehmlichkeiten zur Wehr zu setzen sucht.
„Es soll nicht gut stehen, Herr Vandekamp, gar nicht gut. Wie ich höre — aber, wie gesagt, ich habe es nur gehört — soll man ihn gestern abend aufgegeben haben.“
Über die eisernen Züge gleitet ein Zucken. Die Hand, die nach dem Hörer greift, sinkt sogleich wieder.
„Verbinden Sie mich mit dem Städtischen Krankenhaus. Innere Abteilung. Ich wünsche den leitenden Arzt persönlich ...“
Es dauert eine Weile, bis die Verbindung hergestellt und Professor Oppermann, der um diese Zeit seine Besuche macht, zur Verfügung ist.
Ein kurzes Gespräch. Dann legt Friedrich Vandekamp den Hörer auf die Gabel.
„Sie sind schlecht unterrichtet. Herr Brackmann hat gestern einen aus der Art seines Leidens leicht erklärlichen Schwächeanfall gehabt, von dem er sich bereits erholt hat. Von einer Verschlechterung, gar einem Aufgegebensein, ist keine Rede. Ich danke Ihnen für jetzt und bitte, mir Fräulein Sentland zu schicken. Für die nächsten zwei Stunden wird kein Besuch, auch niemand aus dem Kontor, zu mir gelassen. Sie haben dafür zu sorgen.“
Timm tritt in das Zimmer. Mit der Verspätung, die den Vater trotz aller Vorsätze auch heute wieder verstimmt.
Kurz und kühl ist die Begrüssung. Timm ist zerstreut und einsilbig, hat nicht einmal die übliche Entschuldigung bereit.
Aber sowie er mit dem Vater allein ist, wendet er sich, anscheinend gleichgültig und wenig beteiligt, zu ihm hinüber:
„Wie ist es eigentlich mit der Brackmannschen Sache geworden? Du weisst ja, dass ich mich ungern in deine Massnahmen mische.“
„Und diesmal?“
„Nun ... ob es ganz richtig war, den armen Kerl, der vielleicht etwas unüberlegt und voreilig, aber immerhin doch im festen Glauben an dich und an deine Zusage gehandelt hat, so erbarmungslos abzufertigen?“
Friedrich Vandekamp rückt seinen Stuhl ein wenig nach vorn, stützt den Kopf in die Hand, sagt nichts.
Aber Timm merkt, dass ihm seine Worte wenig gelegen kommen.
„Schliesslich habe ich ja ebensoviel Schuld.“
„Weshalb du?“
„Weil ich wohl empfand, wie der arme Deibel mit seinen Jammeraugen immer zu mir hinüberschielte, gleich als hoffte er, ich würde ihm zu Hilfe kommen, mich seiner Sache irgendwie annehmen.“
„Unsinn!“ erwidert Friedrich Vandekamp. Und dann ganz langsam und zögernd, als brächte er die Worte schwer über die Lippen:
„Wenn hier von einer Schuld die Rede sein kann, dann trage ich sie ... ich ganz allein. Und ich bin willens, sie auf mich zu nehmen. Aber ich denke, wir lassen die Sache jetzt ruhen.“
„Da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, wir müssen etwas für ihn tun. Dass er in Konkurs gerät, kannst du auf keinen Fall zulassen. Da wir mit ihm in geschäftlicher Verbindung stehen, wäre es unser eigener Schade.“
„Er wird nicht in Konkurs geraten.“
Timm atmet auf.
„Hast du ihn gehalten?“
„Ich wollte es. Aber es war nicht mehr nötig. Er hat das Geld von anderer Seite erhalten.“
„Von wem?“ fragt Timm nebenhin.
„Von seiner Tochter.“
Timm lässt den Stift, mit dem er einige Zahlen hingekritzelt, auf die Platte des Schreibtisches sinken.
„Was sagst du? Von seiner Tochter? Das ist ja gar nicht möglich!“
„Ja, das könnt ihr nicht fassen. Doch warum sollte nicht einmal ein Kind seinem Vater beistehen? Besonders wenn er in Not geraten ist.“
„Aber sie ist eine Lehrerin auf dem Lande, die sicher auch nichts hat.“
„Eine Lehrerin? Woher weisst du das?“
Timm erzählt sonst nichts so gern als seine sportlichen Erlebnisse und Abenteuer. Von seiner gestrigen Fahrt wird er nie sprechen. Das weiss er. Am wenigsten dem Vater gegenüber.
„Du kennst sie?“
Timm fühlt den forschenden Blick zu sich hinübergleiten.
„Flüchtig“, weicht er aus. „Deshalb setzte mich deine Mitteilung in einige Verwunderung.“
„Die Brackmanns gehörten einmal zu den reichsten und angesehensten Kaufmannsfamilien Danzigs“, fährt Friedrich Vandekamp fort, sichtbar bestrebt, dem Gespräch eine mehr sachliche Wendung zu geben. „Es war noch vor deiner Zeit. Die Frau war eine geborene Henkels. Sie brachte ihrem Manne ein bedeutendes Vermögen in die Ehe, das er wohl irgendwie sichergestellt haben muss. Wenigstens einen Teil von ihm, der dann auf die Tochter überging.“
„Und mit diesem Erbteil — —“
„Hat sie den Vater gerettet.“
„Alle Achtung!“ sagt Timm, erhebt sich, tritt an das Fenster, bleibt eine Weile dort stehen, kehrt dann an den Schreibtisch zurück.
Schweigend sitzen sich Sohn und Vater gegenüber, ein jeder in seine Arbeit vertieft.
Von draussen dringt die helle Sonne des letzten Maitages in das Zimmer.
Als Friedrich Vandekamp um die gewohnte Mittagsstunde nach Hause zurückkehrt, findet er in einer Dielennische Ina mit Pfarrer Wendland in einem Gespräch, dessen lebhafter Eifer ihm zeigt, dass ihre Meinungen wieder einmal aufeinandergestossen.
Er hat das schon des öfteren beobachtet. Er weiss, dass der junge Geistliche mit Ina gern über Dinge spricht, die ihn beschäftigen oder bewegen, dass er vielleicht den stillen Wunsch hegt, ihre Teilnahme für die Angelegenheiten seiner Gemeinde zu erwecken, sie womöglich zu einer Art von Mitarbeit zu erziehen, weiss aber auch, dass seine zurückhaltende Tochter schwer zu gewinnen ist und dass auch Jürgen Wendland nicht viel bei ihr erreichen wird.
Oder irrt er?
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