Artur Brausewetter
Roman
Saga
Artur Brausewetter: Der Staatsanwalt. © 1924 Artur Brausewetter. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.
ISBN: 9788711448250
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Seewald —
Es liegt an der Ostsee, deren Wogen hier milde und selten erregt seinen leuchtenden Strand, seine schönen Küsten bespülen. Bewaldete Höhenzüge umsäumen es, liebliche Täler grünen dazwischen.
Es ist das Paradies für die Bewohner der grossen Handelsstadt Kronburg. Sie bringen hier fast den ganzen Sommer zu. Die Männer leben nach wie vor ihrem Berufe. Die Eisenbahn, die stündlich und noch öfter Seewald mit der nahen Stadt verbindet, ist ihre zweite Heimat geworden; die Frauen, bei den engen Räumlichkeiten nur auf ein Mädchen angewiesen, das auch die Sommerfrische geniessen will, plagen sich mit Küche und Kindern von morgens früh bis zum späten Abend, weit mehr als in der Stadt.
Freilich, es gibt auch einige Bevorzugte, die es machen können wie der gesuchte Justizrat Niebert. Der schickt Frau und Tochter in ein vornehmes Familienpensionat, lässt sich indessen in der Stadt nichts abgehen, hat seine gute Bedienung, speist im ersten Gasthause, und nur wenn er Zeit und Lust hat, fährt er auf Stunden und Tage nach Seewald, wo im Pensionat Falke stets ein Zimmer für ihn bereitsteht, um das Bedauern seiner kleinen Frau, wieviel Entbehrungen er sich auferlege, nur damit sie sich hier erholen, mit schmunzelnder Duldermiene abzuwehren.
„Man muss nicht immer an sich denken,“ pflegt er dann zu sagen; „wenn du dich nur wohl fühlst und Gerda sich erholt!“
Schön ist Seewald. Man muss es nur nicht kennen lernen in der Hochflut des Besuchs, wenn Stege und Wege erdrückt werden vom Strom geputzter Menschen, man muss es kennen lernen, wie Gerda es jetzt zum ersten Male sah, im Frühling, wenn die Kastanien blühen und der Flieder duftet, wenn der leuchtenden Saaten erstes Grün wunderbar sich abhebt von dem gesättigten Tiefblau der stillen See, und über beiden der helle Himmel lacht. En Zauber des Unberührten liegt dann über dieser Natur; langsam, spröde nur enthüllt sie ihre ersten Reize, und eifersüchtig ängstlich breiten schon die Buchen und Birken von den Hügeln und Bergen herab ihr junges Laub über die erwachenden Reize, in ihren keuschen Schleier sie bergend.
„Haben Sie schon Ihren neuen Hausgenossen begrüsst?“ fragte der Amtsrichter Gersthoff, als er die Damen zu einem gemeinsamen Spaziergang aus der Pension Falke abholte.
Es verging kein Tag, dass er das nicht tat. Der Justizrat hatte Frau und Tochter seinem Schutze empfohlen, da war es eben seine Pflicht, dies Vertrauen zu rechtfertigen. Alles an ihm war Mittelmass, wie seine Figur; er sprach viel und am liebsten von sich, er rühmte sich gerne, wie oft mittelmässige Menschen, der wenigen Tugenden, die er nicht besass, und dachte geringschätzig über die vielen, die ihm zu eigen waren.
„Eine Freifrau mit ihrem Sohne. Ein armes Kind, ein Jüngling schon, und sieht aus wie ein Knabe von acht Jahren.“
„Die arme Mutter!“
„Nun, so schlimm ist es nicht; sie ist nur Stiefmutter von ihm, noch viel zu jung für ihn. Sie ist die zweite Frau gewesen, man munkelt alles Mögliche; aber du meine Güte, was munkelt man nicht alles in Seewald, und besonders jetzt, wo die Fremden noch selten kommen?!“
„Also Sie kennen die ganze Geschichte? Wie lange sollen wir noch warten?!“
„Was heisst die ganze Geschichte, mein gnädigstes Fräulein?! Was man so am Stammtisch hört. Der alte Freiherr, Türck soll er heissen, hatte von seiner ersten Frau, einer nahen Verwandten, nur dieses eine Kind; die Ehe war überhaupt in jeder Beziehung unglücklich. Als man eben die Scheidung einleiten wollte, starb die Frau. Der Freiherr war bereits gebunden — eine Schauspielerin aus Berlin. Das Weitere erlassen Sie mir. Kurz, er heiratet sie, stirbt und hinterlässt ihr ein riesiges Vermögen und diesen Sohn.“
„Freilich für sie keine gute Zugabe.“
„Angenehm wird sie ihr nicht sein. Aber im übrigen ist auch weder diese Frau, noch ihr armer Sohn das Interessante an der ganzen Sache — sondern jemand anders.“ Sein Ton war gewichtiger, seine Miene geheimnisvoller geworden. „Dieser Freiherr hat nämlich, wie das bei seinem Zustande nötig ist, eine Wärterin — nicht eine alte und runzelige, nein, eine junge und schöne, nicht ganz jung mehr, so am Ende der Zwanziger vielleicht, aber um so schöner, wie alle behaupten, die sie gesehen. Dabei kein ungebildetes Mädchen — so Mittelschlag, wissen Sie?“
„Und was ist daran so wunderbar?“
„Es ist die elendeste Stellung, die Sie sich denken können. Die Gnädige tyrannisiert sie mit ihren Befehlen, der Junge mit seiner Liebe. Tag und Nacht muss sie um ihn sein, alle Verantwortung muss sie tragen, die unangenehmsten Verrichtungen tun. Denken Sie, zehn Jahre eines jungen Lebens in diesem furchtbaren Dienst, diesem täglichen Umgang!“
„Wie kommt sie denn zu dieser Stellung?“
„Nun, da munkelt man wieder die abenteuerlichsten Geschichten. Sie habe Diakonissin werden wollen, sei aber ihrer Jugend wegen nicht angenommen worden; da sei sie erst auf ein Jahr in eine Irrenanstalt gegangen, als Wärterin oder dergleichen, und von dort zu dem kranken Kinde gekommen, das sie nun nicht wieder verlassen will.“
„So muss sie es sehr lieb haben.“
„Es kann wohl nicht anders sein. Vielleicht ist auch ein bisschen Schwärmerei dabei, wie man sie bei solchen älteren Mädchen öfter findet —“
Er kam nicht weiter. Ein Ausruf seiner Nachbarin, halb unterdrückt, schwankend in Erstaunen und Freude, machte ihn stutzen. Und schon war Gerda von ihm und der Mutter fort, einer hohen Männergestalt entgegengeeilt, die eben aus dem Laubdach hervortrat, das an dieser Stelle fast bis an den Strand die Küste säumte.
„Rudolf! — O verzeihen Sie — Herr von Bolkow — ist es möglich?“
„Ja, Gerda — ich hier, Sie schon den ganzen Nachmittag auf allen Wegen suchend, bis ich Sie endlich gefunden!“
„Endlich!“ sagte Gerda halb scherzend, aber ein wehmütiger Klang lag in der leisen Stimme.
Der Amtsrichter, der indessen nähergetreten, hatte sein Befremden über dieses Wiedersehen des alten Bekannten, den er für alle Zeit in Berlin geborgen wähnte, in einem Schwall erstaunter Fragen zu verbergen gesucht.
Ein überlegenes Lächeln spielte während seiner Worte über die Lippen des Staatsanwaltes; durch die grauen, für seine Jugend sehr ernsten Augen blitzte es in unverhohlenem Hohn.
„Ja, alter Freund — ich hier in Seewald, und nicht für heute nur, für wenige Tage — nein, so lange ihr mich haben wollt!“
„Wie sollen wir das verstehen?“ fragte Frau Niebert.
„Sehr einfach, meine gnädige Frau, man hat mich hierher versetzt, an die Staatsanwaltschaft in Kronburg.“
Jetzt konnte Gersthoff trotz aller Mühe, die er sich gab, seinen Unwillen nicht mehr verbergen; in den Augen des jungen Mädchens aber leuchtete es auf, so beseligt, so Zeugnis ablegend von einem unsagbaren Glück, dass es dem Amtsrichter von diesem Augenblicke an zur unerschütterlichen Gewissheit wurde, dass sein Spiel verloren war, unhaltbar verloren trotz des energischen Mitspielers, dessen er in Gerdas Vater sicher war.
Und während er, fast betäubt noch von dem ungeahnten Schlage, an der Seite der Justizrätin blieb, die nur langsam gehen konnte, wanderte Gerda mit dem Staatsanwalt in schnellerem Schritte voran, hart am Strande des Meeres, das, in den leichten Rosenschleier der Abendröte gehüllt, zu ihren Füssen dämmerte wie ein grosses, unerforschtes Rätsel, jedesmal die Farben wechselnd, wenn ein leiser Schauer über seine Fläche glitt.
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