Wir sprachen über die schrecklichen Folgen, die ein Suizid für die Hinterbliebenen hat. Doch ich betonte, dass es durchaus Situationen und Schicksale geben kann, in denen ein Selbstmord nachvollziehbar ist, getreu dem Motto: »Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Dabei muss ich in meiner Argumentation wohl so verzweifelt gewirkt haben, dass unser Supervisor mich erschrocken ansah. Am Ende unserer Gruppensitzung nahm er mich beiseite und fragte mich sehr direkt, ob ich vorhätte, mir das Leben zu nehmen.
Es hätte damals eine Menge Gründe gegeben, mich einfach ziehen zu lassen. Schließlich war mein Supervisor ein viel beschäftigter Mann. Er arbeitete als evangelischer Seelsorger in einer großen Uniklinik und war zudem in mehreren Gremien sowie als Ausbilder von anderen Supervisoren aktiv. Was mich betraf, so gehörte ich als Freikirchler noch nicht einmal zu seinem Stall: »Sollen sich seine eigenen Leute um ihn kümmern!«, so hätte er sich sagen können. Doch eben das tat er nicht. Stattdessen nahm er sich meiner an. Warum? Weil er in der Lage war, genau hinzusehen. Und das, was er sah, ließ ihn nicht kalt, sondern berührte sein Herz.
Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann.
Darum beschwor mich dieser Mann mit Tränen in den Augen, mein Leben nicht einfach wegzuwerfen. Am Ende unseres Gesprächs versicherte ich ihm, dass ich mir bei einem Psychologen in Würzburg professionelle Hilfe holen würde. Und als ich dann schließlich gehen wollte, lud er mich noch zum Mittagessen in die Kantine des Krankenhauses ein.
Für mich war diese Begegnung der erste und entscheidende Schritt auf einem langen Weg in die Freiheit. Es war die Barmherzigkeit meines Supervisors, die mich dazu bewog, diesen Schritt wirklich zu gehen, anstatt mich volllaufen zu lassen und mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes vor die Wand zu fahren.
Barmherzigkeit hat mir das Leben gerettet!
Barmherzigkeit hat mir eine Zukunft eröffnet
Ich bin in meinem Leben immer wieder barmherzigen Samaritern begegnet: Menschen, die meine inneren Nöte gespürt haben und denen ich nicht egal war. Durch ihre Nähe, ihren Zuspruch und ihre praktische Hilfe konnte ich wieder aufstehen, wenn ich – an meiner Seele verwundet – am Boden lag und nicht mehr weiterwusste. Ohne diese Menschen würde es dieses Buch nicht geben, denn ohne ihre Barmherzigkeit würde es auch mich nicht geben – zumindest nicht so, wie ich heute bin und lebe.
Schon recht früh während meines Theologiestudiums wurde ich mit meinen Studienkollegen zu einem »missionarischen Praktikum« nach Mainz geschickt. Zu den Herausforderungen eines solchen Praktikums gehörten auch sogenannte evangelistische Straßeneinsätze: Wir machten in der Fußgängerzone durch kurze Theaterstücke auf uns aufmerksam und sprachen dann die neugierigen Passanten an, um ihnen von Jesus Christus zu erzählen. Für einen Menschen mit sozialen Ängsten und Zwangsstörungen ist solch ein Einsatz der ultimative Horrortrip. Dass ich dies irgendwie überstanden habe, habe ich einzig der Barmherzigkeit von Heiko zu verdanken, bei dem ich damals untergebracht war. Wenn ich mit verheulten Augen völlig in mich gekehrt in einer Ecke hockte, dann zog Heiko mich aus dem Loch der Depression: Er nahm mich in den Arm, brachte mich zum Lachen, betete für mich und sprach mir Mut zu. Durch seine barmherzige Zuwendung schaffte ich es, nicht aufzugeben.
Das Gleiche gilt für meine Zeit in Frankfurt am Main. In der dortigen Freien evangelischen Gemeinde absolvierte ich als Student ein sechsmonatiges Praktikum – und wäre an meinen zahlreichen Ängsten fast zerbrochen. Von Zeit zu Zeit schloss ich mich auf dem Klo ein, um dort unbemerkt zu weinen und mich den Fragen der Leute zu entziehen. In dieser Phase war es Felix, der mich wieder aufpäppelte. Bei ihm und seiner Frau fühlte ich mich geborgen und hatte keinerlei Ängste, verletzt oder beschämt zu werden. Ihre liebevolle Zuwendung und ermutigenden Rückmeldungen brachten mich letztlich zu der Ahnung, dass ich anderen Menschen tatsächlich etwas zu geben habe. Ohne ihre Barmherzigkeit hätte ich mein Praktikum abbrechen müssen. Doch dank ihrer Hilfe nahm ich auch diese Hürde und kam am Ende sogar ganz gut zurecht.
Während meiner ersten Stelle als Pastor in Oberursel wurde ich in einen fetten Konflikt zwischen einzelnen Gemeindemitgliedern verwickelt, bei dem es sowohl um Macht und Anerkennung als auch um die zukünftige Ausrichtung der Gemeinde ging (das war in der Zeit, in der eine Gemeinde bereits als »charismatisch« galt, wenn sie die Lieder im Gottesdienst nicht aus Liederbüchern singen ließ, sondern stattdessen einen Overheadprojektor verwendete, um die Texte an die Wand zu projizieren). Da es sich um eine Krankheitsvertretung und befristete Anstellung handelte, wohnten meine Frau Claudia und ich zunächst nicht in einer eigenen Wohnung, sondern bei Helmut und Sabine. Helmut war Mitglied der Gemeindeleitung und eben dieser Umstand bewahrte mich davor, bereits nach wenigen Wochen zu scheitern. Denn bevor Helmut mich überhaupt kannte, hatte er sich bereits fest vorgenommen, den zukünftigen Pastor nach allen Kräften zu unterstützen und ihm zur Seite zu stehen.
Durch Helmut habe ich letztlich begriffen, was die Bibel mit dem Begriff »Erwählung« meint. Und während ich mich durch diese erste schwere Zeit quälte, war es seine Barmherzigkeit, die mich davor bewahrte, einfach alles hinzuschmeißen. Seine Frau und er gehören zu den Menschen, die sehr genau hinsehen – und die fühlen, was sie sehen. Das Leid ihrer Mitmenschen geht ihnen zu Herzen, sodass sie sich mit allen Kräften einsetzen, um zu trösten, zu ermutigen, zu verbinden und zu heilen. Für eine geschundene Seele sind solche Menschen Balsam. Und das waren sie auch für mich. Wie oft haben sie mich bestätigt, beraten, gesegnet oder einfach in den Arm genommen.
Und noch eine barmherzige Samariterin gilt es zu nennen, durch die ich heute dieses Buch schreiben kann: meine Frau Claudia. Ich weiß, dass sie dies überhaupt nicht gerne mag, denn Claudia ist – wie jeder Mensch – nicht perfekt. Und sie weiß um ihre Schwächen. Darum mag sie es nicht, wenn andere auf sie das Bild einer tadellosen, vorbildlichen Heiligen projizieren. Ich kann Ihnen versichern: Das ist sie nicht! Dennoch war es an der entscheidenden Stelle meines Lebens ihre Barmherzigkeit, die mich ermutigt hat, mir helfen zu lassen, statt mich einfach aufzugeben.
Bedingt durch die psychische Erkrankung sowie meine Alkoholabhängigkeit erhielt ich später von der Arbeitsagentur die Möglichkeit einer Umschulungsmaßnahme. So zogen wir als Familie von Unterfranken ins Ruhrgebiet und ich begann mit einer Ausbildung zum Medienkaufmann. Als dann jedoch immer klarer wurde, dass ich den mir anvertrauten Aufgaben nicht gewachsen war und mein Ausbildungsbetrieb keinen dauerhaften Arbeitsplatz für mich haben würde, kam es bei mir zu einem seelischen und körperlichen Zusammenbruch. Mein Alkoholkonsum geriet völlig außer Kontrolle und am Ende fand ich mich in der Psychiatrie wieder. Dieser zweite Tiefpunkt war für mich noch entsetzlicher als der erste, denn schließlich hatte ich eine Chance bekommen, mein Leben in den Griff zu kriegen – und nun hatte ich es völlig verkackt.
Ich weiß, dass meine Frau damals nicht nur besorgt um mich war, sondern auch enttäuscht und wütend – und das völlig zu Recht. Ich hatte unsere Zukunftsträume vor die Wand gefahren, sie immer wieder belogen und tief verletzt. Ich hätte es darum sehr gut verstanden, wenn sie sich von mir abgewendet hätte, um sich selbst zu schützen. Doch das tat sie nicht. Stattdessen blieb sie an meiner Seite und unterstützte mich, wo immer sie konnte.
Ich werde nie vergessen, wie wir gemeinsam durch unseren damaligen Wohnort Hattingen-Welper spazierten (wir gingen über den Friedhof – ein Ort, an dem man wirklich zur Ruhe kommt und zudem an die eigene Sterblichkeit erinnert wird). Einige Tage zuvor hatte Claudia mich mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht und nun sprachen wir darüber, wie es mit mir weitergehen sollte. Ich empfand eine abgrundtiefe Scham und Ekel vor mir selbst. Und Claudia packte mich nicht in Watte. Vielmehr erklärte sie mir klipp und klar, dass sie nicht länger bereit sei, dies alles mitzumachen. Doch dann kam ein Satz, der sich mir sehr tief eingeprägt hat: »Volker, Gott hat dich nicht aufgegeben, ich habe dich nicht aufgegeben und du solltest dich auch nicht aufgeben!«
Читать дальше