Sofort wurden mir die Parallelen klar: Ich bin keinen Deut besser als diese frommen Männer, die achtlos an einem hilflosen, mit dem Tode kämpfenden Mann auf ihrem Weg vorbeigehen! Das war keine Lappalie, denn auch die Schnapsleiche an meinem Wegesrand war vom Tod bedroht. Entgegen der landläufigen Meinung wärmt Alkohol den Körper nicht, sondern öffnet die Poren und lässt den Körper schneller auskühlen. Dadurch können Menschen, die im Rausch irgendwo im Freien eingeschlafen sind, über Nacht erfrieren. Daneben gab es für diesen jungen Mann noch eine weitere tödliche Gefahr: Sollte er sich im Schlaf von der Seite auf den Rücken drehen, so konnte er an seinem Erbrochenen ersticken (er wäre nicht der Erste). Es bestand also wirklich dringender Handlungsbedarf: Diesem Menschen musste sofort geholfen werden!
Schuldbewusst drehte ich um und fuhr zurück zu der Stelle, an der ich ihn gesehen hatte. Er lag noch immer dort und rührte sich nicht. Während ich versuchte, ihn zu wecken, kam ein Fußgänger und gemeinsam riefen wir einen Krankenwagen. Der Gottesdienst war plötzlich zweitrangig geworden.
Ich habe mich später nicht danach erkundigt, was aus ihm geworden ist, aber ich gehe sehr stark davon aus, dass er inzwischen wieder alle zwei Wochen kerngesund in der Nordkurve steht und seinen Verein anfeuert.
Dieses Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Barmherzigkeit, doch wie Sie an dieser Geschichte sehen können, schreibe ich es mir auch selbst. Ich will barmherziger werden! Ich bin ein Mensch, der sich mit seinem zerbrechlichen und chaotischen Leben an Jesus hängt und ihm vertraut. Ich bin ein Jesus-Schüler. Und Jesus sagt unmissverständlich:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! 4
An diesem einen Satz hängen für mich sowohl die Wirklichkeit als auch die Relevanz des christlichen Glaubens, denn ein Gott, der angesichts des zum Himmel schreienden Leidens seiner Kinder ungerührt auf dem Sofa liegen bleibt, ein solcher Gott hätte es nicht verdient, geliebt zu werden. Einzig ein barmherziger Gott ist auch ein liebenswürdiger Gott!
Zugleich weist uns diese Aufforderung von Jesus den Weg, auf dem die Barmherzigkeit Gottes zu den Notleidenden kommt, die sie so dringend brauchen: durch Menschen, die ihm nachfolgen, durch seine Schülerinnen und Schüler. Das aber bedeutet: Eine Kirche, die an den Leidenden am Wegesrand achtlos vorbeigeht, weil sie ständig mit sich selbst beschäftigt ist und ihr frommes Programm pflegt, eine solche Kirche hat es nicht verdient, beachtet und gehört zu werden. Einzig eine barmherzige Kirche ist auch eine glaubwürdige Kirche! Beim Thema »Barmherzigkeit« geht es somit um die Existenzberechtigung unseres Glaubens.
Darum lassen Sie uns gründlich prüfen, ob es wahr ist, dass wir einen Vater im Himmel haben, der barmherzig ist. Und wenn dies so ist, dann lassen Sie uns alles dafür tun, dass seine göttliche Barmherzigkeit unser Leben durchdringt und unsere Herzen erobert. Denn dann – und erst dann! – werden wir zu Nachfolgerinnen und Nachfolgern von Jesus, die Gottes Barmherzigkeit in diese Welt tragen, indem wir an den Notleidenden auf unserem Lebensweg nicht achtlos vorbeigehen. Bewegt von der Barmherzigkeit unseres himmlischen Vaters werden wir zu Menschen, die fühlen, was sie sehen.
Und wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann!
Volker Halfmann
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»MEIN LEBENSRETTER« – Weshalb mir dieses Buch so wichtig ist
Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen.
Lukas 10,30
Barmherzigkeit hat mir das Leben gerettet
Auch ich bin »unter die Räuber« gekommen. Auf meinem Lebensweg gibt es Zeiten, in denen ich verprügelt und ausgeraubt am Wegesrand lag. Allerdings nicht physisch, sondern psychisch. Geraubt wurde mir nicht mein materieller Besitz, sondern meine Selbstachtung und mein Lebenswille.
Seit dem Beginn meiner Pubertät leide ich unter einer Zwangserkrankung, vor allem unter völlig irrationalen Zwangsgedanken und Ängsten, aber auch unter Zwangshandlungen, doch wirklich therapiert wurde diese Erkrankung erst, als ich 40 Jahre alt war. Die Jahre zuvor habe ich versucht, mich irgendwie über Wasser zu halten, vor allem mit der Betäubung meines kranken Gehirns durch Alkohol sowie der Übertönung meiner verrückten Gedanken durch laute Rockmusik. Eine Weile funktionierte das gut, doch dann geriet ich mehr und mehr in einen zerstörerischen Kreislauf aus Abhängigkeiten, Scham, Selbsthass und tiefer Depression, den ich in dem Buch »Mein goldener Sprung in der Schüssel« genauer beschreibe.
Meinen ersten Tiefpunkt erreichte ich im Herbst 2006 als Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Karlstadt. Ich verachtete mich aus tiefstem Herzen und war der Überzeugung, mehr Schaden anzurichten als für irgendwen von Nutzen zu sein. Aus meiner Sicht war ich ein Stück Dreck und eine Zumutung für meine Mitmenschen. Die Bilanz der vergangenen Jahre sah für mich verheerend aus: 5
Als Gemeindepastor hatte ich total versagt. Trotz vieler Anstrengungen war es mir nicht gelungen, die Gräben zwischen den verfeindeten Geschwistern zuzuschütten und unter ihnen Versöhnung zu stiften.
Meine Gottesbeziehung war eine riesige Baustelle. Ich hatte viel mehr Fragen als Antworten und sah mich außerstande, weiter zu predigen.
Gemessen an meinem kranken Ideal hatte ich sieben Kilo Übergewicht und verachtete meinen Körper zutiefst. Inzwischen war ich nicht einmal mehr in der Lage, in den Spiegel zu schauen. Stattdessen fing ich wieder damit an, aus Frust zu essen und mein Essen anschließend zu erbrechen, da ich es als einen Angriff auf meinen Körper verstand.
In meinem Kopf war die Hölle los. Meine irrationalen Zwangsgedanken und Ängste sowie die ständigen Grübeleien machten es mir nahezu unmöglich, mich auf irgendetwas zu konzentrieren oder gar zur Ruhe zu kommen. Verzweifelt versuchte ich, dieser Hölle mit einer Mischung aus »Pink Floyd« und »Faxe«-Starkbier zu entfliehen, doch das gelang mir immer seltener.
Ich war ein Heuchler und Lügner. Über Wochen hatte ich meine Frau Claudia belogen und ihr vorgespielt, ich würde keinen Alkohol mehr trinken. Dabei konnte ich ohne diesen Stoff keinen einzigen Tag überstehen – deshalb versteckte ich meine Flaschen im Haus und trank dort immer wieder heimlich.
Ich war am Ende: am Ende mit meiner Selbstachtung, am Ende mit meinem Glauben, am Ende mit dem Versuch, zu funktionieren, und am Ende mit der Hoffnung, dass es für mich noch einmal besser werden könnte. Bei einem meiner Lieblingsautoren, Martin Walser, hatte ich den folgenden Satz gelesen: »Jedes Mal meint man, das Schlimmste sei vorbei. Das ist die Illusion, die das Leben verlängert. Das Schlimmste ist immer.« 6Wenn das stimmte, warum sollte ich mein Leben dann noch verlängern? Wäre es nicht viel sinnvoller, dieser Illusion zu entfliehen und es schnell zu beenden?
Ich dachte darüber nach, wie ich mich umbringen konnte, ohne dass dies als Suizid erkennbar wäre. Während einer Fahrt nach Würzburg zu meiner Supervisionsgruppe kam mir schließlich eine Idee: Es müsste ein tragischer Motorradunfall sein, bei dem niemand anderes mit hineingezogen wurde. So etwas passierte ja leider immer wieder mal: Motorradfahrer kamen aufgrund überhöhter Geschwindigkeit von der Straße ab und verunglückten tödlich. Im nüchternen Zustand würde mir dazu sicherlich der Mut fehlen, aber zugedröhnt sollte dies möglich sein. In meinem Kopf war ich schon verdammt nah am Abgrund. Erschrocken über mich selbst ging ich in die Gesprächsgruppe und wagte dort einen verschlüsselten Hilferuf.
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