Violet hatte keine Freunde in Perfect und so langsam fühlte es sich an, als hätte sie auch keine Eltern mehr. Seit ihrer Ankunft hatte sie die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer verbracht und war nur zum Abendessen runtergekommen, bei dem ihre Mutter wieder eine ihrer neuen Kreationen präsentierte.
An dem Abend, bevor die Schule losging, bekam Violet auf der Treppe nach oben zufällig mit, wie ihre Eltern sich in der Küche unterhielten.
Die Stimme ihres Vaters ließ sie innehalten.
»Rose …«, sagte er mit einem Seufzen. Er klang besorgt. »Würdest du das bitte mal weglegen und dich zu mir setzen? Ich muss mit dir reden.«
»Ich höre dich bestens«, erwiderte ihre Mutter seelenruhig. »Ich möchte erst diese Rosinenbrötchen fertig machen.«
»Rose. Bitte. Setz dich!« Ihr Vater schrie beinahe. Unwillkürlich zog Violet den Kopf ein. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Einen Moment, Liebling. Ich bin gleich fertig.«
»Ich dachte, du hasst es zu kochen«, blaffte er.
»Im Ernst? Wie kommst du denn darauf? Ich liebe es. Seit wir hergezogen sind, hat sich mir eine völlig neue Welt eröffnet!«
»Etwas an dieser Stadt behagt mir nicht, Rose.« Seine Stimme wurde sanfter.
»Wie bitte, Liebling?«
Violets Dad seufzte, dann schrappten Stuhlbeine über den Fliesenboden und schwere Schritte durchquerten die Küche. Violet erstarrte.
»Rose«, sagte ihr Vater von der Küchentür aus.
»Ja, Liebling?«
»Du weißt, dass ich dich liebe, oder?« Er klang einsam.
»Aber natürlich, Schatz. Möchtest du Streusel auf deinen Rosinenbrötchen oder soll ich meine Spezialglasur draufmachen? Meine Ladys waren neulich ganz begeistert davon.«
Ihr Vater antwortete nicht. Er verließ die Küche und lief durch die Diele.
Violet huschte so leise wie möglich die restlichen Stufen hinauf, rannte in ihr Zimmer und schlüpfte unter die Decke. Einige Minuten später erschien ihr Vater in ihrer Tür.
»Violet«, flüsterte er, »bist du wach?«
Sie kniff die Augen fest zu und tat so, als würde sie tief schlafen.
Ihr Vater schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer und setzte sich sachte auf ihre Bettkante. Violets Herz schlug schneller. Er strich ihr übers Haar. Am liebsten hätte sie sich aufgesetzt und ihn umarmt. Sie wusste, dass er traurig war, trotzdem blieb sie standhaft. Schließlich hatte er ihnen diesen Schlamassel überhaupt erst eingebrockt.
»Violet«, flüsterte er mit belegter Stimme, »ich hab dich lieb, Mäuschen.«
Er beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann steckte er die Decke um sie fest und ging auf leisen Sohlen hinaus. Violet schlug die Augen auf.
Was war nur in ihre Familie gefahren?
Es tat ihr in der Seele weh, ihren Dad so niedergeschlagen zu sehen. Aber wenigstens bedeutete das, dass er ihr neues Zuhause auch nicht mochte, und je weniger es ihm hier gefiel, desto schneller würden sie wieder in ihre alte Heimat zurückkehren.
Violet lag die halbe Nacht wach. Vor lauter Nervosität wegen des bevorstehenden ersten Unterrichtstags an ihrer neuen Schule konnte sie einfach nicht einschlafen.
Irgendwann hörte sie die schweren Schritte ihres Dads an ihrer Tür vorbei nach unten stapfen. Während sie darauf lauschte, dass er zurückkam, döste sie langsam ein. Plötzlich landete etwas mit einem leisen Plumps auf dem Boden.
Hastig tastete sie den Nachttisch nach ihrer Brille ab, fand sie jedoch nicht. Also streckte sie den Arm aus dem Bett und suchte den Boden ab.
»Kannst nicht schlafen, was?«
Erschrocken zog sich Violet die Decke über den Kopf. Jemand lachte. Sie kannte dieses Lachen – sie hatte es schon zweimal gehört.
»Wozu versteckst du dich unter deiner Decke? Du kannst mich doch sowieso nicht sehen!«
Vorsichtig lugte sie aus ihrem Versteck hervor. Alles war verschwommen, doch aus dem Augenwinkel nahm sie einen dunklen Schatten am anderen Ende ihres Zimmers wahr. Sofort schlüpfte sie wieder unter ihre Decke.
»Was willst du?«, quiekte sie verängstigt. Ihre Stimme drang nur gedämpft durch den Stoff.
»Ich will dein ganzes Geld und so viele Süßigkeiten, wie du beschaffen kannst, sonst muss deine Puppe dran glauben!«
»Ich habe keine Puppe. Und ich weiß nicht, wo ich Süßigkeiten herbekommen soll«, antwortete sie mit zitternder Stimme.
Der Junge lachte erneut. Es war eindeutig ein Junge.
»War nur ein Witz! Oh, sie kommen« – er klang auf einmal ganz panisch – »ich muss weg!«
Schnelle Schritte näherten sich ihrem Bett. Der Einbrecher schien sich zu bücken und etwas vom Boden aufzuheben.
»Hier ist deine Brille. Viel Spaß in der Schule morgen!«
Ein Gegenstand landete federleicht auf ihrem Bett. Sie streckte die Hand aus und tastete danach. Es war tatsächlich ihre Brille. Schnell setzte Violet sie auf und schaltete die Nachttischlampe an.
Das Zimmer war leer. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Vielleicht setzte ihr die Sonne ja mehr zu als den anderen. Sie sank zurück auf ihr Kissen und zog sich die Decke über den Kopf. Nach kurzer Zeit schlief sie ein. Ihre Träume waren voller Geisterjungen.
Nach einer kurzen, unruhigen Nacht mit dem Kopf unter der Bettdecke stand Violet auf und ging nach unten, um zu frühstücken. In der Küche beugte ihr Dad sich im Halbschlaf über mehrere Zettel auf dem Tisch. Als sie reinkam, setzte er sich hastig auf und schob seine Notizen zusammen.
»Du bist aber früh wach, Mäuschen«, sagte er, wobei er um ein Haar seine Tasse umstieß. Der Tee darin war augenscheinlich schon länger kalt.
»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie. Auch wenn es nur wenige Worte waren, war es doch eine Erleichterung, nach so langer Zeit wieder mit ihm zu reden.
»Ich auch nicht.« Eugene schenkte ihr ein warmes Lächeln.
»Was machst du da?«, fragte Violet.
»Ach, nur ein bisschen Recherche für die Arbeit.« Er schob die Zettel unter seinen Notizblock.
»Für die Archers?«
Er nickte und rückte ein Stück vom Tisch weg. »Soll ich dir Cornflakes machen, Mäuschen?«
»Dad«, sagte Violet, »magst du die Archers?«
»Selbstverständlich, Mäuschen. Sie sind meine Vorgesetzten.«
»Es ist nur, na ja, irgendwas an ihnen fühlt sich seltsam an. An der ganzen Stadt eigentlich. Findest du nicht, dass Mam irgendwie komisch drauf ist?«
»Violet, ich möchte nicht, dass du so über deine Mutter sprichst. Das ist bloß der Umzugsstress. Seit wir hier sind, mäkelst du ständig an allem rum. Gib der Stadt wenigstens eine Chance!«, blaffte er plötzlich.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden klang er verärgert. Violet verstand die Erwachsenen nicht. Gestern Abend hatte er doch selbst noch gewirkt, als ob ihm Perfect nicht recht behagte.
»Ich hasse es hier, Dad, ich hasse diese Stadt! Ich wollte überhaupt nie herziehen. Du hast uns gezwungen!«, schrie sie und stürmte aus der Küche.
»Violet, komm auf der Stelle wieder her!«
Sein Tonfall war Furcht einflößend. Am liebsten wäre Violet einfach trotzig weitergestapft, aber das traute sie sich nicht. Sie drehte sich um und trottete zurück, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen.
»Wag es nicht, jemals wieder so mit mir zu reden. Ich versuche, uns hier ein gutes Leben aufzubauen. Ich weiß, in deinem Alter ist so ein Umzug nicht immer einfach, aber ich erwarte, dass du unserem neuen Zuhause eine Chance gibst.«
»In meinem Alter?! Ich bin doch kein Baby mehr. Ich habe Perfect eine Chance gegeben, aber ich hasse es, ich HASSE es! Hier habe ich überhaupt keine Freunde und Mam und du benehmt euch total seltsam. Und letzte Nacht konnte ich deswegen nicht schlafen, weil jemand in meinem Zimmer war. Eigentlich wollte ich es euch gar nicht erst erzählen, ihr glaubt mir ja sowieso nicht.«
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