Es dauerte eine Weile, bis Violet sich aus ihrer Schockstarre löste und sich wieder dem Fragebogen zuwandte.
Was kommt dir als Erstes in den Sinn, wenn du an Perfect denkst?
Wütend malte sie einen Hundehaufen in das Kästchen. Sie musste hier weg, und zwar bald.
Tags darauf saß Violet nach der Schule zu Hause am Küchentisch und plagte sich mit ihren Hausaufgaben herum. Sie sollte einen Aufsatz schreiben, zum Thema »Warum die Welt Regeln braucht«.
Ihrer Meinung nach brauchte die Welt nicht viele Regeln. Sie hatte versucht, das im Unterricht anzubringen, woraufhin Mrs Moody beinahe einen Herzinfarkt erlitten hatte. Niemand stimmte ihr zu. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass die Aufgabe nur auf sie abgezielt hatte.
»Ich habe gerade mit deiner Lehrerin gesprochen«, verkündete ihre Mutter seufzend, als sie in die Küche kam. »Sie sagt, du hast den Unterricht gestört und integrierst dich nicht in die Klasse …«
Sie ließ den Satz einen Moment in der Luft hängen. Violet wollte etwas erwidern, doch ihre Mutter hob die Hand.
»Außerdem liegt die Auswertung deiner Testergebnisse vor. Nicht zu fassen, dass es mir nie aufgefallen ist. Das ist meine Schuld. Ich trage die Verantwortung dafür.«
»Was meinst du, Mam? Was für Testergebnisse?«
»Violet, bitte, ich weiß, das ist nur ein Symptom deines Zustands, aber sei nicht so vorlaut.«
»Mam«, flehte Violet, »geht es um den Test von gestern? Der war das Dümmste, was ich je gesehen habe. Sie wollten sogar wissen, welche Farbe meine Lieblingssocken haben. Du hättest dich kaputtgelacht! Hier ist alles so seltsam, Mam, ich finde Perfect einfach nur gruselig …«
»Schluss damit, Violet, ich will nichts mehr hören. Farben können viel über eine Person aussagen, vor allem die Farbe ihrer Socken! Nun denn, Violet, Liebes«, fuhr ihre Mutter fort, deren »Liebes« schon genauso klang wie das von Mrs Moody, »wie sich herausgestellt hat, leidest du an einer Krankheit namens AGDS. Das steht für Anpassungs- und Gehorsamkeitsdefizit-Syndrom. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das nie bemerkt habe, obwohl es dir wahrscheinlich schon dein gesamtes Leben lang zu schaffen gemacht hat, Liebes.« Sie steckte die Hand in ihre Tasche. »Deswegen bekommst du ab sofort die hier.«
Rose zog ein kleines braunes Fläschchen hervor und stellte es vor Violet auf den Tisch.
»Davon nimmst du eine am Morgen«, sagte sie, während sie das Fläschchen wieder hochnahm und eine einzelne gelbe Pille in ihre Hand schüttete. Dann stand sie auf, füllte ein Glas mit Wasser und setzte es zusammen mit der Pille vor ihrer Tochter ab. »Und zwei am Abend. Der Doktor meinte, ich soll dir deine Morgendosis jetzt gleich geben, weil du ein besonders schwerer Fall bist. Die Abenddosis gebe ich dir, wenn ich zurückkomme. Mach dir keine Sorgen, dass wir es vergessen könnten, Liebes, Mrs Moody hat mir freundlicherweise diesen Timer gegeben, der uns daran erinnert.« Sie stellte eine kleine Uhr auf den Tisch. »Der Schule liegt dein Wohlergehen wirklich am Herzen.«
»Aber Mam, ich gehe da doch erst seit zwei Tagen hin! Mrs Moody kennt mich überhaupt nicht. Der Test war total bescheuert und ich war nicht ungehorsam! Mir ist bloß der Bleistift runtergefallen und beim Seilspringen habe ich einmal die Beine überkreuzt. Mam, bitte, ich will keine Tabletten nehmen. Ich bin nicht krank!«
»Violet, Schluss jetzt! Ich weiß, du verhältst dich nur wegen deines AGDS so, aber ich muss sagen, das kann ganz schön ermüdend sein.«
»Aber Mam …«
»Genug, Liebes! Jetzt nimm deine Tablette. Ich muss gleich zum Buchclub und möchte mir keine Sorgen machen müssen, dass du dein Medikament nicht genommen hast.«
Violets Blick wanderte zu der gelben Pille vor ihr und von dort hoch zu ihrer Mutter, die aussah, als würde sie gleich explodieren. Wütend legte sie sich die Tablette auf die Zunge, setzte das Wasserglas an und schluckte.
Ihre Mutter lächelte, tätschelte Violet den Kopf und erhob sich.
»Nun fühlst du dich doch gleich viel besser, oder? Ich gehe jetzt zu meinem Treffen, aber ich bin rechtzeitig wieder zurück, um Abendessen für dich und deinen Vater zu kochen. Ich glaube, heute mache ich Risotto.«
Ihre Mutter schwebte aus dem Raum, während Violet wutschäumend am Küchentisch sitzen blieb.
Die Frau, mit der sie gerade geredet hatte, mochte aussehen wie ihre Mutter, doch sie war es definitiv nicht. Es musste sich um eine Art fiese Doppelgängerin handeln, die ihren Platz eingenommen hatte.
Violet stand auf und lief in der Küche hin und her. Irgendwas stimmte nicht, und zwar ganz und gar nicht. Sie musste versuchen, noch mal mit ihrem Dad zu reden. Vielleicht konnte sie ja diesmal zu ihm durchdringen.
Er war bei der Arbeit, also schnappte sie sich ihre Jacke und rannte, so schnell sie konnte, zum Ocularium.
Unter dem funkelnden goldenen Schild mit der Aufschrift Archers’ Ocularium hielt Violet einen Moment inne, um wieder zu Atem zu kommen. Sie wollte gerade die dunkelblaue Tür aufdrücken, als sie eine plötzliche Erkenntnis traf – so heftig, als hätte ihr jemand mit einem Ziegelstein auf den Kopf geschlagen.
Ihre Mutter hatte recht.
Sie hatte AGDS. Obwohl sie nie zuvor davon gehört hatte, war sie sich absolut, einhundertprozentig sicher, dass sie es hatte. Natürlich litt sie an einem Anpassungs- und Gehorsamkeitsdefizit. Mrs Moody lag vollkommen richtig. Wie hatte sie einfach mitten auf dem Schulhof gegen die Seilsprungregeln verstoßen können? So was Peinliches! Und der Bleistift – allein beim Gedanken daran wurde sie rot. Was mochten die anderen wohl von ihr gedacht haben, als sie unter den Tisch gekrochen war, ohne ihre Lehrerin um Erlaubnis zu fragen? Mrs Moody hatte nur versucht, ihr zu helfen, als sie ihnen diesen Aufsatz über die Bedeutung von Regeln aufgegeben hatte. Wie hatte ihr das entgehen können? Sie war wirklich ein vorlautes Kind, aber das würde sich jetzt ändern.
Sie drehte sich um und lief durch die Splendid Road zurück, doch mit jedem Schritt wurde ihre Gewissheit schwächer. Als sie zu Hause ankam, hatte sie es sich schon wieder anders überlegt. Violet war total verwirrt.
Sie war nicht vorlaut, sie hatte bloß versucht, mehr Schwung in das Spiel zu bringen. Und an ihrer alten Schule hatte niemand um Erlaubnis bitten müssen, um einen Stift aufzuheben!
Violet setzte sich auf die Stufen vor dem Haus ihrer Eltern. Ihr Gesinnungswechsel war so schnell und plötzlich gekommen, dass er richtiggehend unheimlich war. Was hatte sie dazu gebracht, auf einmal so zu denken? In Gedanken ging sie die einzelnen Schritte noch einmal durch, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Was hatte sie anders gemacht?
»DIE TABLETTE!«, rief sie und sprang so abrupt auf, dass sie sich die Brille von der Nase schlug. Um sie herum wurde alles schwarz und verschwommen. Schnell setzte sie sich wieder hin und tastete nach ihrer Brille. Auf einmal hörte sie, wie sich auf dem Kies etwas bewegte. Schritte.
»Ich bin’s«, sagte die Stimme gehetzt. »Ich weiß, dass sich deine Eltern verändern.«
Es war wieder der Junge.
Gerade als sie sich in seine Richtung wandte, kamen schnelle, schwere Schritte über den Kies auf sie zu.
»Du!«, grollte eine Männerstimme. »Noch mal kommst mir nicht davon, dafür sorg ich!«
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