An der Wand hinter dem Verkaufstresen erstreckten sich mehrere Regale aus dunklem Holz, in denen fein säuberlich die dunkelblauen Teepäckchen mit der goldenen Schrift und dem Porträt der Archer-Zwillinge aufgereiht waren. Von den Deckenbalken hingen Teetassen, Teesiebe und Teekannen, ebenfalls in Dunkelblau und Gold gehalten, und auf den Tischen ringsum standen wunderschöne aufgeklappte Teekisten.
»Sucht euch schon mal einen Platz am Fenster«, sagte Violets Mutter, während sie zur Theke ging.
Violet und ihr Vater setzten sich an einen Tisch mit Blick auf die malerische Geschäftsstraße. Um die unbehagliche Stille zu übertünchen, tat Violet so, als wäre sie ganz vertieft darin, die Leute draußen vor dem Fenster zu beobachten.
Schließlich kam Rose mit einem Tablett in der einen und einer reich verzierten Teekiste in der anderen dazu.
»Wofür ist die, Mam?«, fragte Violet, während sie die Kiste in Augenschein nahm.
»Die ist für den Teemann, Violet. Die Frau hinter der Theke meinte, fast alle hier in Perfect haben so eine. Man stellt sie vor die Haustür und der Teemann füllt sie jeden Morgen auf. Ist das nicht wundervoll? Der Tee wird täglich frisch geliefert, genau wie die Archers gesagt haben. Kein Wunder, dass er so aromatisch ist. Die Leute sind alle so nett. Und hier einzukaufen ist auch überhaupt nicht teuer.« Lächelnd klopfte Rose auf ihre Tasche.
Eugene hatte nicht zugehört und schaute geistesabwesend weiter aus dem Fenster, während Rose anfing, den Tee auszuschenken.
»Mam«, begann Violet.
»Ja, Mäuschen?«
»Als ich da drüben in der Straße war«, sie zeigte in die ungefähre Richtung, »ist mir die Brille runtergefallen und ich habe gehört, wie mich jemand ausgelacht hat. Das gleiche Lachen habe ich auch gestern bei unserer Ankunft schon gehört. Ich glaube, jemand verfolgt mich.«
»Violet.« Lächelnd legte Rose einen Arm um ihre Tochter.
»Ja, Mam?«
»Du weißt doch, dass deine Fantasie manchmal mit dir durchgeht, Mäuschen. In dem Punkt bist du genau wie dein Vater.« Mit einem Nicken deutete Rose auf Eugene, der immer noch tagträumend aus dem Fenster sah.
»Aber Mam, ich habe wirklich jemanden gehört! Was, wenn es ein Geist oder ein Monster oder so was war? Ich glaube, ich mag diese Stadt nicht.«
Rose lachte. »Du ziehst immer gleich die verrücktesten Schlüsse. Mach dir keine Sorgen, Violet. Was kann an einem wunderschönen Ort wie diesem schon passieren?«
Sie küsste Violet auf die Stirn und strubbelte ihr Haar.
»Jetzt trink deinen Tee, Mäuschen!«, sagte sie mit einem warmen Lächeln.
Violet tat wie geheißen, während sie versuchte, die Erinnerung an die Stimme abzuschütteln. Warum hörte ihre Mam ihr nie zu? Was, wenn es wirklich ein Geist oder so was war? Sie blickte aus dem Fenster, wo die perfekten Einwohner von Perfect ihren Erledigungen nachgingen, und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Himmlisches Vanillearoma streichelte ihre Zunge und im nächsten Moment waren all ihre Sorgen vergessen. Vielleicht war Tee ja tatsächlich die Antwort auf alles.
Träume voller Geisterjungen
Gerade einmal zwei Wochen nach ihrem Umzug waren die Sommerferien vorbei. Die Vorstellung, auf eine neue Schule gehen und neue Freunde finden zu müssen, behagte Violet gar nicht. Sie hatte bereits versucht, sich mit einigen Kindern hier anzufreunden, jedoch ohne Erfolg.
Ihre Mutter hingegen schien sich mehr und mehr in Perfect einzuleben. Sie hatte Violet zu einem Treffen ihres Buchclubs mitgenommen, um sie mit den Kindern ihrer Freundinnen bekannt zu machen, die ihren eigenen kleinen Buchclub hatten.
Bei Tee und selbst gebackenem Kuchen besprachen die Kinder James und der Riesenpfirsich von Roald Dahl. Violet hatte das Buch nicht gelesen, mochte aber seine anderen Geschichten wie Der fantastische Mr Fox oder Sophiechen und der Riese.
»Tut mir leid, aber wenn du James und der Riesenpfirsich nicht gelesen hast, kannst du an unserer Besprechung nicht teilnehmen, Violet«, verkündete eines der Kinder.
Den Rest des Abends saß Violet schweigend da und hörte sich an, wie die anderen über Tante Schwamm diskutierten. Am Ende verließ sie die Veranstaltung wütend und mit hochrotem Kopf.
»Und, wie fandest du es, Violet?«, erkundigte sich ihre Mutter, als sie nach Hause liefen.
»Furchtbar, Mam«, antwortete Violet. »Ich durfte kein Wort sagen.«
»Natürlich nicht, Violet, du hattest das Buch ja nicht gelesen!« Ihre Mutter seufzte. »Aber war der Abend denn wenigstens schön? Fandest du sie nicht auch sehr nett?«
»Zu nett!«, schimpfte Violet. Die anderen Kinder hatten die ganze Zeit nur gelächelt und brav alles getan, was die Erwachsenen ihnen aufgetragen hatten.
Ihre Mutter wollte nichts davon hören. »Es reicht mir langsam, Violet. Was soll das heißen, ›zu nett‹? Kannst du dir nicht endlich mal ein bisschen Mühe geben? Du blamierst mich vor all den anderen Mums!«
»Mums«? Seit wann benutzte ihre Mutter solche Wörter? Normalerweise sagte sie »Mam« oder »Mammy«, aber niemals »Mum«.
In ihrem früheren Leben hatte Rose Brown nie gebacken und ihr war so gut wie jedes Essen, das sie selbst gekocht hatte, angebrannt. Sie hatte für diesen ganzen Haushaltskram nicht viel übrig und trichterte Violet immer wieder ein, dass der Platz einer Frau nicht hinterm Herd war. Stattdessen stürzte sie sich voller Elan in ihren Job und kam abends meist sogar später nach Hause als Eugene.
Doch hier verhielt sie sich vollkommen anders.
Es hatte damit angefangen, dass sie neuerdings die Socken nach Farben sortierte. Als die erste Woche um war, hatte sie sich bereits einer ganzen Reihe von Komitees angeschlossen und begonnen, alle Welt »Liebes« zu nennen.
Jeden Tag stand sie früh am Morgen auf und bereitete das Frühstück vor. Nachdem Violets Dad zur Arbeit gegangen war, räumte sie auf, putzte das Haus und verbrachte dann den Rest des Tages mit ihren Freundinnen – das waren die, deren Kinder Violet mögen sollte, ob sie wollte oder nicht. Mal trafen sie sich zu ihrem Buchclub, mal veranstalteten sie Kochkurse und hin und wieder spielten sie sogar zusammen Golf. Obwohl sie erst seit kurzer Zeit in Perfect lebte, war Violets Mam bereits zur Vorsitzenden des örtlichen Backkomitees gekürt worden. Rose hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, als der Anruf gekommen war, und bis spät in die Nacht gebacken. Ihre Kuchen waren wirklich lecker, aber darum ging es nicht.
Früher hatte Violets Mutter Golf gehasst und die Vorstellung, einem Buchclub beizutreten, wäre ihr lächerlich vorgekommen. Nun war sie »ein Teil von Perfect« und hatte dieses Schimmern wie alle anderen auch.
Violets Dad hatte sich ebenfalls verändert, doch er schimmerte kein bisschen. Er wirkte stumpf und antriebslos. In letzter Zeit war er ständig müde und selbst sein Lächeln war verblasst. Außerdem schien er deutlich gealtert zu sein. Obwohl sie erst seit zwei Wochen hier waren, sah er fünf Jahre älter aus.
Violet hatte ihren Vater noch nie so niedergeschlagen erlebt. Vielleicht war das zum Teil auch ihre Schuld, denn sie sprach immer noch nicht mit ihm. Früher hatten sie über alles geredet, aber nun hatte sie schon seit vierzehn Tagen und fünf Stunden kein Wort mehr zu ihm gesagt. Anfangs hatte er versucht, sich weiter ganz normal mit ihr zu unterhalten, doch nach drei oder vier Tagen war ihm klar geworden, dass er keinen Mucks mehr aus ihr rausbekommen würde, und er hatte aufgegeben.
Auch die Art, wie ihre Eltern miteinander umgingen, hatte sich verändert.
Früher hatten sie sich ständig umarmt und geküsst. Violet war das immer furchtbar peinlich gewesen, doch inzwischen hätte sie sich liebend gern in Grund und Boden geschämt, nur um die beiden noch einmal so zu sehen. Stattdessen führte ihre Mutter sich wie die perfekte Hausfrau auf und ihr Dad war kaum noch daheim.
Читать дальше