»Pass auf, Dad!«, rief Violet. Damit verstieß sie zwar gegen ihr Schweigegelübde, aber es handelte sich nun mal um einen Notfall.
»Gute Idee, Mäuschen!«, sagte ihr Vater und ließ sich umständlich auf die Knie sinken. »Ich hole dann also mal Hilfe und bin gleich wieder zurück. Vertraut mir.«
Violets Vater krabbelte quer durchs Schlafzimmer und hinaus in den Flur.
Ihm vertrauen? Das konnte er sich abschminken. Er hatte ihnen den Schlamassel doch erst eingebrockt.
»Au!«, schrie Violet, als sie gegen das Bett ihrer Eltern knallte.
»Alles in Ordnung, Mäuschen?«, erkundigte sich ihre Mutter von oben.
Violet rieb sich die Stirn. Blut fühlte sie schon mal keins.
»Ja, ich glaub schon«, stöhnte sie und kletterte zu Rose ins Bett.
Die Matratze war noch warm und das Bettzeug roch nach Dad. Violet kuschelte sich eng an ihre Mam.
»Guten Morgen!«, rief eine Stimme von draußen zu ihnen herauf. »Ist es nicht ein wundervoller Tag, Familie Brown?«
»Mam, da draußen ist jemand.«
»Ich weiß, Mäuschen. Warte hier«, flüsterte ihre Mutter und stieg aus dem Bett.
Rose stolperte durchs Zimmer, dann ging das Fenster quietschend auf und kalte Luft strich kitzelnd über Violets Zehen, die unter der Bettdecke hervorlugten.
»Hallo?«, rief Rose.
»Oh, guten Morgen, Mrs Brown. Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen und bei der Gelegenheit Eugene anbieten, ihn zur Arbeit zu fahren.«
»Ach, Sie sind das, Mr Archer«, seufzte ihre Mutter. »Sie schickt der Himmel. Ich fürchte, wir fühlen uns nicht so gut. Die Wirkung der Sonne hat früher eingesetzt als erwartet.«
»Herrje, wie bedauerlich. Aber es reagiert eben jeder etwas anders darauf und manchmal geht es doch schneller als gedacht. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir bringen das in null Komma nichts wieder in Ordnung.«
Einige Minuten später führte Mr Edward Archer – Violet war sich sicher, dass er es war, denn er war kaum größer als sie – Eugene, Rose und Violet behutsam aus dem Haus und zu seinem Auto.
»Auf zum Ocularium!«, rief er, als der Motor surrend zum Leben erwachte.
Violet wunderte sich, warum sie sich Fische ansehen sollten, wo sie doch so gut wie blind waren. Erst als sie ankamen und sie aus dem Augenwinkel einen verschwommenen Blick auf das Ladenschild erhaschte, verstand sie, dass Mr Archer »Ocularium« gesagt hatte und nicht »Aquarium«. Von ihrem Dad wusste sie, dass »okular« irgendwas mit Augen zu tun hatte. Das Ocularium war offenbar ein Brillengeschäft! Das ergab auch viel mehr Sinn. Sowohl das Wort als auch die seltsame Schreibweise passten zu Edwards Vorliebe für hochgestochene Ausdrücke.
Als Mr Archer sie am Arm fasste und ihr langsam aus dem Auto half, beschloss Violet, dass sie nie wieder blind sein wollte. Sie mochte es, sehen zu können. Schon jetzt vermisste sie die vielen Farben und sehnte sich nach allem, was blau oder lila oder orange war. Sogar braun wäre ihr lieber gewesen als dieses eintönige Schwarz.
»Mr Archer«, sagte sie, als ihr plötzlich etwas einfiel, »wir waren doch noch gar nicht in der Sonne. Wie kann es da sein, dass unsere Augen schon so schlecht geworden sind?«
»Die Sonne hat den ganzen Morgen durch dein Fenster geschienen, Liebes«, antwortete Edward Archer.
»Aber …«
»Manche Menschen reagieren sehr empfindlich darauf, Violet«, unterbrach er sie und drückte ihren Oberarm so fest, als wolle er ihn abschnüren.
Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, stieß jedoch prompt mit dem Zeh gegen etwas Hartes.
»Aua!«, jaulte sie auf und hob ihren Fuß.
»Ach herrje, ich Dummerchen habe ganz vergessen, die Treppe zu erwähnen!« Edward Archer lockerte seinen Griff.
Sie klammerte sich an seinem Ellbogen fest und tastete sich vorsichtig die fünf breiten Stufen hinauf. Dann wurde das Schwarz plötzlich noch schwärzer und sie geriet ins Stolpern.
»Keine Sorge, Liebes, wir sind nur gerade reingegangen, dadurch hat sich das Licht ein wenig verändert«, sagte Edward lachend.
Violet lächelte so höflich wie möglich. Sie hatte sich ohnehin schon halb entschieden, aber durch sein Lachen war die Sache endgültig klar: Sie hasste Edward Archer fast genauso sehr wie seinen Bruder.
»Hier ist ein Stuhl. Komm, ich helfe dir, dich zu setzen«, verkündete er. Er nahm ihre Hände, sodass sie sich langsam rückwärts sinken lassen konnte.
Sie zuckte zusammen, als das kalte Leder ihre nackten Beine berührte. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie immer noch ihren Sommerschlafanzug anhatte, den mit den vielen roten und rosafarbenen Herzchen drauf. Bei dem Gedanken daran wurden ihre Wangen ganz warm. Sie hatte ihrer Mam gesagt, dass sie zu alt für Herzchen war, aber Eltern hörten ja nie zu.
»Ich gehe eben deine Mutter und deinen Vater holen, Liebes«, rief Edward Archer ihr zu, während er sich bereits entfernte.
Stille legte sich über den Laden.
Manchmal mochte es Violet, wenn es ganz still war, aber nicht in diesem Moment. Wenn man blind war, hatte Stille etwas Beängstigendes. Sie schob die Hände unter die Oberschenkel und schlenkerte mit den Beinen, während sie krampfhaft versuchte, sich an ein fröhliches Lied zu erinnern.
Plötzlich hörte sie, wie schnelle Schritte den Laden durchquerten und eilig auf sie zukamen – was sie daran erkannte, dass sie immer lauter wurden. Sie drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs.
»Ich muss mit deinem Dad reden«, flüsterte ihr jemand ins rechte Ohr.
»Wer ist da?«, fragte sie atemlos.
Schwerere Schritte kamen in den Laden. »Hab ich dich, du räudige Waise!«, keuchte eine andere Stimme.
Es folgte eine wilde Jagd. Jemand rannte hinter Violets Stuhl, hielt sich für einen Moment daran fest und kippte ihn dadurch beinahe um, dann stürmten die Schritte (die schweren wie auch die leichteren von davor) wieder nach draußen und verklangen in der Ferne.
»Wer ist da?«, rief sie noch einmal, während sie sich mit beiden Händen krampfhaft an den Armlehnen ihres Stuhls festkrallte.
»Violet, was machst du denn hier?«
Diese Stimme kannte sie. Sie gehörte George Archer.
»Jemand war hier im Laden! Und dann hat jemand anderes ihn gejagt!«
»Ach ja?«, erwiderte er. Er klang beunruhigt. »Hast du sie gesehen? Wie sahen sie aus?«
»Nein«, antwortete sie schnell. »Ich kann nichts sehen, aber ich hab sie gehört. Einer von ihnen hat mir was ins Ohr geflüstert!«
»Ach herrje«, sagte George Archer lachend, »du bist jetzt schon blind? Wenn man sein Augenlicht verliert, spielt einem das Gehör manchmal Streiche.«
»Nein, es war wirklich jemand hier. Ich hab mir das nicht bloß eingebildet, das schwöre ich«, beharrte Violet.
»Da war niemand«, widersprach George schroff. Damit war das Gespräch beendet.
Im Laden ertönten vertraute Stimmen.
»Mam, bist du das?« Violet lehnte sich aus ihrem Stuhl.
Jemand packte sie bei den Schultern und zog sie zurück.
»Hier gibt es jede Menge Glas, das zu Bruch gehen kann, Violet, Liebes«, knurrte George Archer hinter ihr.
»Violet, keine Angst, Mäuschen, wir sind ja hier«, erklang Dads beruhigende Stimme irgendwo links von ihr.
Sie wollte etwas erwidern, doch sie konnte nicht. Ihr Schweigen hing einen Moment lang in der Luft, dann ergriff Edward Archer das Wort. »Fangen wir mit dir an, Violet«, sagte er. Es klang, als stünde er direkt vor ihr. »Ich hoffe, die hier sitzt. Wenn nicht, können wir sie noch anpassen. Du hast einen ungewöhnlich großen Kopf für dein Alter.«
Violet zuckte zusammen und schloss die Augen, als ihr eine Brille recht unsanft auf die Nase geschoben wurde. Warme, verschwitzte Hände umfassten ihr Gesicht und rückten das Gestell zurecht. Die Bügel fühlten sich ziemlich klobig an und drückten hinter den Ohren.
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