Für Mam, die wahre Träumerin
Boy
Stummer Protest
Das Ocularium
Die höchsten Söhne von Perfect
Träume voller Geisterjungen
Schulregeln
AGDS
Hin und her
Iris Archer
Ein dringender Termin
Vorstellungsrunde
Niemandsland
Die Hüter
Nächtlicher Besuch
Gläserweise Farben
Die Warnung
Grabeskälte
Die Geistersiedlung
Der verschlossene Raum
Das Haus in der Wickham Terrace
William Archer
Der ReImaginator
Willkommen in Normal
Überredungskunst
Taktikbesprechung
Die Teefabrik
Williams Mixtur
Mächtige Angst
Kleine Helfer
Rückkehr in den Raum der Fantasie
Wieder vereint
Der Ausrutscher
Möge die Schlacht beginnen
Entscheidungen
Das letzte Gefecht
Unsere Stadt
Durch die Abenddämmerung getarnt, lehnte er im dichten Gebüsch des Gartens an einer Eiche und wartete. Beobachtete. Von seinem Versteck aus hatte er das Haus und die kiesbedeckte Auffahrt vollständig im Blick.
Es war ein seltsames Gefühl, Angst zu haben, dass ihn jemand sehen könnte.
In Perfect war die bevorstehende Ankunft von Dr. Eugene Brown schon seit Wochen in aller Munde. Der Doktor würde helfen. Das wusste Boy, so sicher wie noch nie zuvor etwas in seinem Leben. Er musste es nur schaffen, an ihn heranzukommen, bevor er sich veränderte. Als die Sonne untergegangen war, kamen George und Edward Archer angeschlendert und erklommen die steinernen Stufen zum Haus. Das Licht ging an und Boy sah zu, wie sie drinnen umherliefen.
Plötzlich huschte ein Lichtstrahl über das Gras vor seinen Füßen. Boy zog sich noch weiter ins Gebüsch zurück. Ein silbernes Auto rollte knirschend über den Kies auf ihn zu und hielt an. Boys Herz schlug schneller. Das leise Brummen des Motors verstummte.
Die breite Haustür schwang auf und die Umrisse der Archer-Zwillinge zeichneten sich im Licht der Diele ab. Trotz des Schauers, der ihm über den Rücken lief, stand Boy still und stumm da wie eine Statue und beobachtete, was geschah.
Ein Mann und eine Frau stiegen aus dem Auto.
Boy hatte nicht erwartet, dass der Doktor in Begleitung kommen würde. Die Frau warf dem Mann über das Autodach hinweg einen nervösen Blick zu. Er schenkte ihr ein betretenes Lächeln, dann ging er auf die Zwillinge zu und schüttelte ihnen zur Begrüßung die Hand. Die Frau folgte ihm und zu viert verschwanden sie im Haus.
Gerade als Boy sich vorsichtig aus seinem Versteck wagen wollte, drehte sich der Doktor um und rief: »Violet. Komm ins Haus, Mäuschen, es wird kühl da draußen.«
Die Autotür ging einen Spaltbreit auf und knallte sofort wieder zu, als der Wind durchs Blätterdach über Boy strich.
Boy hielt den Atem an und zog sich tiefer in die Dunkelheit zurück. Die Autotür ging erneut auf und diesmal sprang ein verängstigtes Mädchen heraus und rannte über den Kies aufs Haus zu.
Boy konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Das Mädchen lief noch schneller, sprang die Stufen hinauf und stürmte ins Haus. Mit einem lauten Knall fiel die Haustür ins Schloss und das Licht aus der Diele erlosch.
Die Autotür hingegen stand sperrangelweit offen. Boy schloss sie sanft, als er auf leisen Sohlen aufs Küchenfenster zuschlich. Er bekam gerade noch mit, wie das Mädchen in den Raum schlitterte.
Boy hockte sich neben die Treppe und wartete.
Die Nacht brach an. Bald würden die Hüter ihren Rundgang beginnen und Boy konnte es sich nicht erlauben, noch einmal außerhalb der Mauern erwischt zu werden. Er beschloss, früh am nächsten Morgen zurückzukommen und dann mit dem Doktor zu sprechen.
Bevor er ging, warf er einen letzten Blick durchs Fenster. Das Mädchen saß zwischen seiner Mam und seinem Dad – eine richtige Familie. Der Anblick versetzte Boy einen schmerzhaften Stich. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu dem abgegriffenen Stück Papier in seiner Tasche.
Violet schrak hoch, als das Auto knirschend auf dem Kies zum Stehen kam. Draußen war es bereits dunkel. Sie stemmte sich aus dem warmen Ledersitz hoch und lugte durchs Seitenfenster. Das Haus war groß, viel größer als ihr altes, und sah aus wie aus einem Magazin. Drinnen brannte Licht.
Erschrocken zog sie den Kopf ein.
Zwei dunkle Gestalten, eine groß und eine klein, standen im hellen Rechteck der offenen Haustür. Violets Vater zog den Zündschlüssel ab und warf ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu, dann schnallte er sich ab und stieg schwungvoll aus.
»Ah, Mr und Mr Archer«, sagte er, während er auf die Männer zuging, »wir haben gar nicht mit einem Empfangskomitee gerechnet.«
»Aber das ist doch selbstverständlich, Doktor Brown«, antwortete der Große und streckte seine Hand aus. »Wir wollen schließlich sicherstellen, dass Sie sich wie zu Hause fühlen.«
»Wir waren den ganzen Tag mit den Vorbereitungen beschäftigt. Das Haus ist blitzeblank und der Kessel steht schon auf dem Herd«, ergänzte der Kleine und schob sich vor den Großen, um ihrem Vater die Hand zu schütteln. »Lassen Sie Ihre Sachen erst mal im Auto und kommen Sie herein. Sie müssen erschöpft sein. Eine Tasse Tee wird Ihnen sicher guttun.«
»Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Violets Mutter, als sie dazutrat und die beiden Männer ebenfalls begrüßte. »Eine Tasse Tee wäre jetzt wirklich toll.«
Die vier gingen ins Haus. Wutschäumend blieb Violet im Auto sitzen – sie hatten sie anscheinend völlig vergessen.
»Violet. Komm ins Haus, Mäuschen, es wird kühl da draußen«, rief ihr Vater ihr über die Auffahrt hinweg zu.
Er hatte sie also doch nicht vergessen. Was aber trotzdem nicht bedeutete, dass er sich dafür interessierte, wie es ihr ging. Für ihn zählte einzig und allein dieser Job. Als er das Angebot erhalten hatte, hatte ihre Mutter gesagt, es sei eine außergewöhnliche Gelegenheit. Das war wahrscheinlich so, als hätte er den Oscar für Optiker gewonnen. Die genauen Worte ihres Dads lauteten: »Es wäre dumm von mir, die Stelle nicht anzunehmen. Unbeschreiblich dumm.«
Ihr Dad war Optha… Ophmal… Ophthalmologe, was ein schickes Wort für Augenarzt war und bedeutete, dass er den ganzen Tag Augen operierte. Violet fand die Vorstellung gruselig, deswegen antwortete sie jedes Mal, wenn sie jemand danach fragte, er sei Optiker. Seine Arbeit war ihm enorm wichtig. Andere Eltern schienen sich ständig darüber zu beklagen, wie sehr sie ihre Jobs hassten, doch nicht ihr Dad. Violet war stolz auf ihn, aber das hieß noch lange nicht, dass sie glücklich darüber war, all ihre Sachen zusammenpacken und ihre Freunde verlassen zu müssen, nur weil er eine neue Stelle hatte. Sie fand das extrem egoistisch von ihm und das hatte sie ihm auch unter Tränen gesagt, als er verkündet hatte, dass sie umziehen würden.
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