Beim Anblick der Stufen vor dem Brillenladen musste Violet daran denken, wie sie sich dort erst vor wenigen Stunden schmerzhaft den Zeh angestoßen hatte. Nun konnte sie das Gebäude in seiner ganzen Pracht sehen. Über der dunkelblau gestrichenen Tür prangte in großen goldenen Lettern der Schriftzug: »Archers’ Ocularium«.
Links des Oculariums befand sich eine hohe Mauer, rechts davon erstreckte sich eine Straße zwischen zwei Häuserreihen, bei denen es sich um weitere Geschäfte zu handeln schien. Auch hier hing wieder ein schwarzes Eisenschild an der Wand und verkündete, dass dies die »Edward Street« war.
»Ist es nicht wundervoll, Violet?«, fragte ihr Vater lächelnd. »Ich liebe solche alten Städte. Sogar die Stadtmauer steht noch. Denk nur, welch lange Geschichte sich dahinter verbergen muss.«
Violet behielt ihr Schweigen bei. Geschichte war das Schulfach, das sie am allerwenigsten mochte. Darüber wollte sie nicht auch noch in ihrer Freizeit nachdenken.
Die Familie setzte ihren Weg durch die Edward Street fort.
Drei Häuser weiter kamen sie an Hatchets Familienmetzgerei vorbei. Ein Mann mit weißer Mütze, rot gestreifter Schürze und goldgeränderter Brille begrüßte sie herzlich. Er sprach sie mit Namen an, was seltsam war, weil sie ihm definitiv noch nicht begegnet waren.
»Es ist eben eine Kleinstadt, Rose, daran werden wir uns wohl oder übel gewöhnen müssen«, antwortete ihr Vater, als ihre Mutter ihn auf die Freundlichkeit der Bewohner ansprach.
»Oh, ich glaube, ich habe mich schon daran gewöhnt, Eugene. Ich fühle mich hier zu Hause, das ist genau das, was wir gesucht haben. Ich bin so froh, dass du uns hergebracht hast.«
Wie bitte? Ihrer Mutter hatte die Vorstellung, umziehen zu müssen, überhaupt nicht gefallen. Sie tue das nur der Familie zuliebe, hatte sie unzählige Male gesagt. Offenbar hatte sie ihre Meinung schnell geändert.
»Ich finde, wir haben die richtige Entscheidung getroffen, Eugene.« Lächelnd drückte sie die Hand ihres Mannes.
Violets Dad strahlte übers ganze Gesicht. Überschwänglich küsste er seine Frau auf die Stirn, während sie vor der Konditorei standen. Violet schämte sich in Grund und Boden.
Sie fand die Stadt seltsam. Es fing damit an, dass wirklich alle hier eine Brille trugen, noch dazu immer das gleiche rechteckige Modell mit Goldrand und rosaroten Gläsern. Die Straßen waren blitzsauber und ordentlich. Nirgends war auch nur ein Fitzelchen Abfall zu erkennen, nicht mal ein einzelnes Bonbonpapier. Auf keiner der schwarzen Bänke entlang der Bürgersteige klebte Kaugummi und an den Wänden fand sich kein noch so winziges Graffiti. Die Menschen waren allesamt schlank, und obwohl sie nicht unbedingt gleich aussahen, waren sie sich doch irgendwie ähnlich. Es war so eine Art Glanz oder Schimmer – irgendwie schien jeder hier regelrecht zu leuchten.
»Sie sind gesund, Violet«, erklärte ihr Vater, als sie ihre Eltern darauf hinwies. »Die Archers haben mir erzählt, dass Perfect als gesündeste Stadt der Welt gilt.«
Da war eindeutig etwas dran. Bis jetzt waren sie noch an keiner einzigen Frittenbude vorbeigekommen und dabei liebte Violet Fish ’n’ Chips. Das war Sonntagabend-Familientradition im Hause Brown. Im Stillen setzte sie auch diesen Punkt auf ihre Liste der Dinge, die gegen Perfect sprachen.
Während ihre Eltern sich angeregt mit einem weiteren Passanten unterhielten, der sie bereits beim Namen kannte, schlich Violet heimlich davon.
Sie kam am Rathaus vorbei, einem alten Gebäude, dessen Fassade vier steinerne Säulen zierten. Violet blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, um den riesigen Uhrenturm besser sehen zu können, der auf dem Schrägdach des Rathauses prangte. Bestimmt hatte man von dort oben einen tollen Blick über die gesamte Stadt mitsamt den umliegenden Bergen.
Neben dem Rathaus stand das Teegeschäft der Archers. Es war in den gleichen Farben gehalten wie die inzwischen leere Packung Tee, die noch vom Vorabend auf dem Küchentisch lag: dunkelblau mit goldener Schrift.
Ein Stück weiter zweigte eine Straße nach links ab. Hoch oben an der Häuserwand hing wieder eines dieser schwarzen Eisenschilder, diesmal mit der Aufschrift: »Archers’ Avenue«.
Violet bog von der Edward Street ab und folgte dem makellos sauberen Kopfsteinpflaster der Archers’ Avenue. Auf der rechten Straßenseite standen zweistöckige Wohnhäuser, auf der linken gab es einen engen, beinahe versteckten Durchgang entlang der Rückseite der Geschäfte, die auf die Edward Street hinausgingen.
Der Durchgang lag im Schatten der Geschäfte links und einer hohen Mauer rechts. Er war dunkel und nicht sonderlich einladend, ganz anders als alles, was Violet bisher in Perfect gesehen hatte. Ein Schild verkündete, dass es sich um die »Rag Lane« handelte. Lumpengasse. Das passte.
Etwas daran zog sie geradezu magisch an.
Mit einem Anflug von Nervosität folgte sie dem schmalen Durchgang, wobei sie in regelmäßigen Abständen innehielt und sich umsah, um sicherzustellen, dass niemand sie aus dem Dunkeln beobachtete. Bald schlug ihr das Herz bis zum Hals, doch sie lief entschlossen weiter. Das hier war der einzige Teil der Stadt, der nicht ganz so perfekt war. Nach einer Weile ging es leicht bergab. Im nächsten Moment machte der Durchgang einen Knick nach rechts und Violet fand sich in einer Sackgasse wieder.
Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sie vor der Rückseite des Rathauses stand. Die Glasfenster des Uhrenturms ragten hoch über ihr auf.
Violet kehrte zum Beginn des Durchgangs zurück. Statt nach rechts in Richtung Edward Street zu biegen, folgte sie der Mauer zu ihrer Linken. Sie wollte erst noch ein bisschen die Archers’ Avenue erkunden.
An einem der Wohnhäuser auf der rechten Straßenseite hing ein weiteres schwarzes Eisenschild. Violet überquerte das Kopfsteinpflaster, um zu lesen, was darauf stand.
Geburtshaus der ehrenwerten Herren George und Edward Archer, der höchsten Söhne von Perfect.
Darüber war noch etwas eingeritzt worden. Es war kaum zu erkennen, doch mit ein wenig Mühe konnte Violet gerade eben die Worte »und William« in krakeliger Kratzschrift ausmachen.
Damit mussten die Archers gemeint sein, die sie bereits kannte. Aber wer um alles in der Welt war William?
Neugierig lugte sie durch das Fenster neben ihr, um einen Blick auf den Ort zu erhaschen, an dem die Archers geboren worden waren. Als ihre Nase die Scheibe streifte, kam ihr aus der Dunkelheit auf der anderen Seite plötzlich ein Gesicht entgegen.
Es gehörte einer alten Frau, deren Haut so straff saß, dass ihr die blauen Augen regelrecht aus dem Kopf zu springen schienen. Ihr weißes Haar war zwar nicht direkt ungepflegt, aber auch nicht gerade ordentlich. Es sah aus, als mochte sie es genauso wenig, sich zu kämmen, wie Violet. Ihre Lippen verzogen sich zu einem fratzenhaften Grinsen, wodurch eine ganze Reihe von Zahnlücken zum Vorschein kam. Doch da war noch etwas anderes an ihr, etwas, das Violet nicht richtig benennen konnte.
Erschrocken drehte Violet sich um und rannte zur Edward Street zurück. In ihrer Hast stolperte sie über einen offenen Schnürsenkel und verlor ihre Brille. Während sie auf die Knie ging, um das Kopfsteinpflaster abzutasten, hallte Gelächter von den Wänden wider. Es war das gleiche unheimliche Lachen, das sie am Vorabend in der Auffahrt gehört hatte.
Endlich fand sie ihre Brille wieder. Mit fliegenden Fingern setzte Violet sie auf und sprintete zurück zu den Geschäften. Sie entdeckte ihre Eltern vor dem Teeladen der Archers.
»Ach, da bist du ja, Violet«, empfing ihre Mutter sie lächelnd. »Was meinst du, gönnen wir uns ein Kännchen Tee?«
Violet nickte, noch ganz außer Atem.
Ihre Mutter schob die Ladentür auf. Im Inneren des Geschäfts bimmelte ein Glöckchen.
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