»Violet!«, schimpfte Rose. »Sei nicht so aufsässig. Ich weiß, das liegt an deiner Krankheit, Liebes, aber so geht das nicht weiter. Ich habe noch nie ein schlechtes Wort über die Archers verloren und werde es auch niemals tun.«
Rose nahm die beiden gelben Kapseln vom Tisch und hielt sie ihrer Tochter hin. Violet sah die Tabletten an, dann ihre Mutter.
»Los jetzt!«, befahl Rose.
Langsam griff Violett nach den Kapseln und schob sie sich unauffällig unter die Zunge. Ihre Mutter füllte ein Glas mit Wasser und reichte es ihr.
»Runter damit!«, schnauzte sie.
Violet tat wie geheißen. Rose lächelte zufrieden und fuhr fort, das Abendessen anzurichten. Sobald sie ihr den Rücken zuwandte, spuckte Violet die Tabletten aus und steckte sie in die Hosentasche.
»Na also«, sagte ihre Mutter wenig später, als sie vor ihrem Risotto saßen, »ich wette, du fühlst dich schon besser.«
Violet nickte stumm, ohne von ihrem Teller aufzusehen.
Sie traute sich nicht zu antworten, denn sie fürchtete, das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen zu können. Ihre Mutter plauderte während des gesamten Essens ungerührt vor sich hin und berichtete ausführlich von ihrem Tag. Nach dem Nachtisch gab es die übliche Tasse Tee, doch Violet musste an die Warnung der alten Frau denken und brachte es nicht über sich, ihn zu trinken.
Es wurde später und später und ihr Dad war immer noch nicht zu Hause. Ein flaues Gefühl machte sich in Violets Magen breit. Bei der Erinnerung an ihren Besuch im Ocularium wurde ihr ganz schlecht. Sie war sich sicher, dass sie die Stimme ihres Vaters gehört hatte. Warum hatte sie nicht hartnäckiger nachgefragt? Warum war sie einfach so weggegangen? Irgendetwas stimmte nicht, das war offensichtlich. Ihr Dad steckte ganz eindeutig in Schwierigkeiten.
Als es Schlafenszeit war, stieg sie mit einem gigantisch schlechten Gewissen die Treppe hinauf. Gerade als sie oben ankam, klingelte unten das Telefon. Sie hielt inne. Leise rückte sie näher ans Geländer heran, setzte sich auf die oberste Stufe und lauschte.
»Hallo, hier bei Familie Brown?«, meldete sich ihre Mutter mit ihrer neuen Telefonstimme, die immer ein wenig gekünstelt klang.
»Oh, Mr Archer. Was kann ich für Sie tun?«
»Ja, das dachte ich mir. Violet hat sich schon Sorgen gemacht.«
»Ach ja? Das hat sie mir gar nicht erzählt.«
»Es tut mir schrecklich leid, dass sie Ihnen solche Umstände bereitet hat, Mr Archer. Ich fürchte, das liegt an ihrem AGDS.«
»Ja, sie nimmt ihre Pillen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
»Aber natürlich, Mr Archer. Ich weiß, wie Kinder sein können. Ich werde strengstens darauf achten.«
»Danke, dass Sie mir wegen Eugene Bescheid gesagt haben, Mr Archer. Ich hoffe, er hilft Ihnen bei Ihrer Forschung?«
»Wundervoll.«
»Ja, das richte ich ihr aus. Gute Nacht, Mr Archer.«
Warum riefen die Archers an, um ihnen mitzuteilen, dass ihr Dad noch auf der Arbeit war? Ihr Dad war doch wohl in der Lage, selbst ein Telefon zu bedienen. Warum rief er sie dann nicht selbst an?
»Violet!«, schimpfte ihre Mutter, als sie sie auf der Treppe entdeckte. »Hast du mich etwa belauscht?«
»Nein, ich … ich wollte nur wissen, ob das Dad war.«
»Es war Edward Archer.« Ihre Mutter lächelte schon wieder. »Dein Vater musste für ein paar Tage weg. Auf eine Konferenz für Augenheilkunde. Offenbar ist es sehr wichtig.«
»Warum konnte er uns das nicht selbst sagen?«, fragte Violet lauter als beabsichtigt. »Er hat nicht mal seine Tasche gepackt!«
»Violet, bitte, du machst mir Kopfschmerzen. Es war sehr freundlich von Edward Archer, uns anzurufen und Bescheid zu sagen. Dein Vater musste schnell weg. Es war dringend.«
»Eine dringende Konferenz für Augenheilkunde?«
»Violet! Dein AGDS ist wirklich eine Zumutung. Du ahnst gar nicht, wie anstrengend das ist, Liebes. Edward Archer war so nett, sich nach deinem Zustand zu erkundigen. Alle hier versuchen nur, dir zu helfen, und du zeigst dich so undankbar. Was hattest du heute im Ocularium zu suchen?«
»Ich wollte zu Dad!«, fauchte Violet.
»Du hast in Bereichen rumgeschnüffelt, in denen der Zutritt verboten war. Du kannst von Glück sagen, dass Edward Archer versprochen hat, die Sache nicht weiter zu verfolgen.«
»Wieso verfolgen?«, protestierte Violet. »Ich hab doch gar nichts …«
»Violet«, seufzte ihre Mutter, »genug ist genug. Sei einfach froh, dass die Archers so verständnisvoll sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Vater es ebenfalls sein wird, wenn er nach Hause kommt.«
Violet antwortete nicht. Es war zwecklos. Egal, was sie sagte, ihr wurde ja doch nur das Wort im Mund herumgedreht.
Sie stand auf und stapfte wütend in ihr Zimmer. Dort angekommen, schloss sie die Tür hinter sich und ließ sich aufs Bett fallen.
Ihre Welt brach mehr und mehr auseinander. Ihre Mutter hörte nicht zu und ihr Vater war verschwunden. In den vergangenen zwei Wochen war sie mehr als gemein zu ihm gewesen und jetzt würde sie ihn vielleicht nie wiedersehen. Hinter alldem steckten die Archers, da war sie sich sicher, doch selbst wenn sie es hätte beweisen können, würde niemand auf sie hören. Es war, als stünden alle in Perfect unter einer Art Bann. Tränen stiegen ihr in die Augen. Bald waren es so viele, dass Violet sie nicht länger zurückhalten konnte. Sie weinte und weinte, bis sie sich vollkommen leer geweint hatte.
Erschöpft schlüpfte sie unter die Bettdecke und hoffte, dass sie wenigstens schnell einschlafen würde.
Doch nicht einmal das war ihr vergönnt. Egal was sie auch tat, sie fand partout keine bequeme Position. Es fühlte sich an, als würde sie auf einem Knubbel liegen. Nachdem sie sich stundenlang hin und her gewälzt hatte, setzte sie schließlich die Brille wieder auf und machte sich auf die Suche nach der Ursache.
Als Erstes strich sie das Laken glatt. Der Knubbel war immer noch da. Dann zog sie das Bettlaken zurück und sah darunter nach. Konnte ja sein, dass dort irgendwas liegen geblieben war, was ihre Mutter beim Bettenmachen übersehen hatte. Doch da war nichts. Der Knubbel schien tatsächlich in der Matratze zu sein. Vielleicht hatte sich eine Feder gelöst oder so was.
Entnervt zerrte Violet das Laken vom Bett und nahm die Matratze genauer unter die Lupe.
In der Oberseite klaffte ein schmaler Schnitt, aus dem Teile der Füllung hervorquollen. Er war ungefähr so lang wie ihr Unterarm. Vorsichtig zwängte sie die Hand hinein und ertastete etwas Hartes. Sie schloss die Finger um den geheimnisvollen Gegenstand und zog ihn aus seinem Versteck.
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