War das eine Einladung? Bat sie Violet herein?
Violet stand auf und ging auf das Haus zu. Vor der offenen Tür blieb sie stehen.
»Hallo?«, rief sie.
Als keine Antwort kam, trat sie vorsichtig ein.
Das Innere des Hauses wirkte beinahe perfekt, doch genau wie an seiner Außenseite gab es ein paar Kleinigkeiten, die nicht recht ins Bild passen wollten. Der Boden war ein bisschen uneben und knarrte beim Drübergehen. Das einzige Licht fiel von außen durch die schmutzigen Spitzengardinen herein und alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Es sah aus, als hätte hier schon lange niemand mehr sauber gemacht, was seltsam war, wo Putzen hier in Perfect doch fast wie eine olympische Sportart betrieben wurde.
Auf der linken Seite stand eine der Türen einen Spaltbreit offen.
»Hallo?«, wiederholte Violet, als sie den Kopf hindurchsteckte.
Die alte Frau saß auf ihrem Platz am Fenster, ihr Körper verschwand halb im Schatten.
»Sie haben die Tür aufgemacht«, sagte Violet und wagte sich einen weiteren Schritt vor.
»Ja.«
»Alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein«, krächzte die alte Frau.
Ihr weißes Haar erinnerte entfernt an ein Vogelnest. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, unter dessen Spitzensaum ihre knochigen nackten Füße hervorragten. Sie hatte ein freundliches Gesicht, doch ihre Augen wirkten traurig.
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«, erkundigte sich Violet.
Statt zu antworten, drehte die alte Frau sich wieder zum Fenster um. Die Erkenntnis traf Violet wie ein Schlag.
»Sie tragen gar keine Brille!«, platzte sie heraus.
»Augen brauchen keine Gläser, um zu sehen«, erwiderte die Frau. »Sie sind das Fenster zu meiner Seele, warum sollte ich sie da verschleiern?«
»Aber …«, stammelte Violet, »macht die Sonne Sie denn nicht blind?«
»Es heißt Söhne. Sie sind es, die mich beraubt haben.«
Violet machte noch einen vorsichtigen Schritt ins Zimmer hinein.
»Augen krank«, krächzte die alte Frau warnend. »Augen krank. Die Söhne machen die Augen krank. Iris Archer, sagen sie, der Sohn da taugt nix. Ich hab ihn vor Arnold beschützt, meinen William, mein Äpfelchen. Dann haben Ed und Georgie ihn vor Neid aufgefressen.«
»William Archer?«, hakte Violet nach. »Ist er Ihr Sohn? Was ist mit ihm passiert?«
»Mein Sohn, mein Mond und meine Sterne.« Iris’ Augen füllten sich mit Tränen.
»Tut mir leid«, sagte Violet. »Ich wollte Sie nicht aufregen.«
»Er ist nicht hier«, fuhr Iris fort. »Sie sagen, er war wild und aufsässig, eine unstete Seele, aber ich wusste, dass das seine Lebensfreude war. Ein Kind ohne Lebensfreude ist wie ein Himmel ohne Sterne. Er hatte Sterne, mein William. Eine Welt voller Sterne. Gehst du auch auf seine Schule?«
Violet zuckte etwas ratlos mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, kann sein. Ich bin aber auch neu hier. Mein Dad arbeitet für George und Edward. Das sind doch auch Ihre Söhne, oder?«
»George und Edward, Edward und George? Sie haben mir das Licht meiner Augen gestohlen. Sie sind wie ihr Vater. Ordnung, alles muss immer in Ordnung sein.«
Violet wich in Richtung Haustür zurück. Die alte Frau war offensichtlich verrückt und sie wollte sie nicht noch mehr aufwühlen.
»Ähm … ich muss gehen, meine Mam hat schon den Tee aufgesetzt. Es gibt Risotto«, brabbelte sie zusammenhanglos.
»Du darfst den Tee nicht trinken!« Iris schoss aus ihrem Stuhl hoch und kam in erstaunlichem Tempo auf Violet zu. »Hör auf mich, trink auf keinen Fall den Tee!«
»Äh … okay, mach ich nicht, versprochen«, stammelte Violet und stolperte rückwärts.
Sie hatte fast schon die Tür erreicht, als die alte Frau weitersprach. Diesmal klang sie nicht mehr ganz so durchgeknallt.
»Du erinnerst mich an ihn, Violet. Du erinnerst mich an meinen William. Auch du bist voller Lebensfreude. Bewahr sie dir.«
»S…Sie kennen meinen Namen?«
»Der Junge hat ihn mir verraten. Er passt auf dich auf. Du hast seine Seele berührt.«
»Welcher Junge?« Bis auf ihre Klassenkameraden kannte Violet keine Jungen in Perfect. Und die passten garantiert nicht auf sie auf.
Iris reagierte nicht. Sie hatte sich wieder in ihre eigene Welt zurückgezogen. Violet wiederholte ihre Frage. Als sie erneut keine Antwort bekam, verließ sie das Haus, trat in den Sonnenschein hinaus und machte sich widerstrebend auf den Heimweg.
Ihre Mutter war bereits zurück, als Violet an diesem Abend nach Hause kam. Rose war noch ganz erfüllt von allem, was Perfect ihr den Nachmittag über zu bieten gehabt hatte. Vor allem Mrs Bickorys Apfelkuchen hatte es ihr offenbar angetan, denn sie hörte gar nicht mehr auf, davon zu schwärmen.
»Der beste Apfelkuchen, den ich je gegessen habe, Violet. Ich backe ihn uns heute zum Nachtisch. June hat mir das Rezept gegeben. Eigentlich ist es ein Familiengeheimnis, aber sie hat es freundlicherweise mit mir geteilt. In dieser Stadt sind alle so nett.«
Violet nickte und holte ihre Schulsachen hervor.
»Oh, gut«, sagte ihre Mutter lächelnd, »die Tabletten wirken also schon. So eifrig habe ich dich noch nie lernen gesehen, Liebes.«
Violet schwieg. Sie war genauso eifrig wie früher, nämlich nicht besonders, aber sie hoffte, keine Tabletten mehr nehmen zu müssen, wenn ihre Mutter mit ihr zufrieden war.
»Hier, Liebes.« Ihre Mutter legte zwei gelbe Kapseln vor ihr auf den Tisch und sah sie auffordernd an. »Zeit für deine Medikamente.«
»Mam, bitte, mir reicht die Tablette, die du mir vorhin gegeben hast. Ich liebe Perfect.« Sie rang sich ein wohlerzogenes Lächeln ab.
»Wie schön, Violet, das freut mich, aber du brauchst dieses Medikament gegen dein AGDS. Du willst doch geheilt werden, oder, Liebes?«
»Können wir nicht wenigstens warten, bis Dad nach Hause kommt? Bitte?«
»In Ordnung, aber dann nimmst du sie. Dein Dad ist mit mir einer Meinung. Wir wollen beide, dass du nicht länger an diesem Syndrom leiden musst. Es schränkt dich fürchterlich ein. Stell dir doch nur mal vor, was du ohne dein AGDS alles erreichen kannst.«
Violet lächelte gehorsam und wandte sich wieder ihren Büchern zu. Sie tat so, als würde sie lernen, während Rose pfeifend durch die Küche wirbelte und ihr Risotto und den Apfelkuchen zubereitete. Bevor sie nach Perfect gezogen waren, hatte Violet noch nie von Risotto gehört, doch inzwischen war es zur Spezialität ihrer Mutter geworden.
Es war schon nach sechs und ihr Dad war immer noch nicht nach Hause gekommen. Er verpasste das Abendessen sonst nie. In all den Jahren, in denen er ihr Vater war – also schon ihr ganzes Leben –, war er abends nie weggeblieben, ohne vorher Bescheid zu sagen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, als ihre Mutter begann, den Tisch zu decken.
»Wir können nicht länger warten, Violet, Liebes«, verkündete ihre Mutter seufzend, »mein Apfelkuchen wird sonst ganz matschig.«
»Aber was ist mit Dad?«
»Mach dir keine Sorgen, ich hebe ihm eine Portion vom Nachtisch auf.«
»Mir geht es nicht um deinen Kuchen, Mam! Wo ist Dad? Es sieht ihm nicht ähnlich, so spät nach Hause zu kommen. Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?«
»Hier in Perfect, Violet?« Ihre Mutter lachte. »Selbstverständlich ist ihm nichts zugestoßen. Er hat wahrscheinlich bloß die Zeit vergessen. Immerhin hat er den besten Job der Welt und das haben wir ganz allein den Archers zu verdanken.«
»Aber Mam«, drängte Violet, »ich dachte, du magst die Archers nicht. An unserem ersten Abend hast du gesagt, du fändest sie …«
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