1 ...6 7 8 10 11 12 ...33 Hier, obschon dem Herzen Böhmens so nah, stieß der Junge zum ersten Mal an die Grenze des Großdeutschen Reichs, wo die Deutschen aus den Sudeten der Demokratie den Rücken gekehrt hatten und »heim ins Reich« zurückgekehrt sind. Etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt wurde die Asphaltstraße von einer Schranke durchschnitten, welche die Tschechen nicht ohne Erlaubnis passieren durften. Weil es zu der Zeit so gut wie keinen Verkehr gab, entstand dort im Sommer eine Art Promenade. Die Sommerfrischler, unter ihnen die Mutter, ihre Freundinnen und alle ihre Kinder, marschierten Schritt für Schritt, so weit man gehen durfte, bis zum Horizont, wo langsam und majestätisch die Fata Morgana von Bezděz, der Burg der böhmischen Könige, die den Tschechen nicht mehr gehörte, vor ihnen emporwuchs. Dem Jungen wird in Erinnerung bleiben, wie der treue Patriot Herr Rakušan im Gartenatelier, wo er tagsüber schwarz-weiß fotografierte und nachts die örtlichen Hochzeiten kolorierte, einmal alle Türen verriegelte, ein Versteck öffnete und seinen Gästen die verbotenen Bilder zeigte. Auf ihnen zogen im Herbst 1938 endlose Kolonnen von Tschechen diese Ausgehstraße entlang; sie waren aus den Siedlungen des tschechischen Grenzgebietes, welche noch älter waren als die deutschen, vertrieben worden. Damals nahm sie die verstümmelte, aber immer noch freie Heimat wenigstens mit offenen Armen auf. Jetzt stank die braune Jauche des Nationalsozialismus überall, sie stand den Geschmähten und Erniedrigten bis zum Hals und war immer häufiger blutrot gefärbt. Nach der Rückkehr aus den Ferien hatte sie auch den vierten Stock in der Zikmund-Winter-Straße erreicht.
Herr Hirsch, das Oberhaupt der Nachbarsfamilie, war der beliebte und geschätzte Chefredakteur der Zeitschrift »Tschechoslowakische Philatelie«. Vor dem Krieg gab er dem Buben von nebenan oft Briefmarken, aber im Vorfeld seiner Pubertät interessierte diesen weitaus mehr seine schlanke Tochter Eva, leider war sie zwei Jahre älter und damit unerreichbar wie ein Hochgebirgsgipfel. Herr Hirsch verlor zwar nach der deutschen Okkupation seine Stelle, durfte aber weiterhin extern für das Journal arbeiten, weil er über Briefmarken so viel wusste wie kaum ein anderer. Er beruhigte sich auch damit, dass er eine Arierin zur Frau hatte. Als diese irgendwann im Jahre 1940 spätabends bei den Eltern klingelte, flüsternd um Einlass bat und einen Flügel, Teppiche und ein großes Ölgemälde, das eine Waldlichtung mit Schneeschmelze zeigte, zum Verkauf anbot, verstand der Vater als Erster, dass sie das Geschäft nur zum Schein tätigen wollte; die Hirschs mussten heraus aus der Stadt zu Verwandten ziehen, die eine kleine Wohnung hatten. Die Eltern stimmten zu und taten auch so, als ob sie die Preise aushandelten, falls jemand meinen sollte, es ginge um eine strafbare Veruntreuung jüdischen Eigentums. Vom Holocaust hatte man damals noch keine Ahnung, und weil der Vater auch fest an eine baldige deutsche Niederlage glaubte, verlief der Abschied beider Familien voneinander im Geiste guter Hoffnung. Vom Treppenabsatz im Hausflur schickte Eva ihrem halbwüchsigen Bewunderer einen Luftkuss zu.
Dem vorgetäuschten Klavierkauf sollte zur Glaubwürdigkeit jener Umstand verhelfen, dass jemand darauf zu spielen lernte. Die Wahl fiel logischerweise auf den Jungen, und der freute sich sogar. Aber während die Mutter in den Anzeigen einen geeigneten Lehrer suchte, zogen die neuen Nachbarn, eine Familie Novák, ein. Die alte, aber Respekt einflößende Frau kam mit ihren beiden Schätzen, Karel und Stanislav, hierher, um sie mütterlich zu betreuen, beide waren jenseits der vierzig und noch immer unverheiratet, woran der Umstand Anteil hatte, dass sie Geiger in der Tschechischen Philharmonie waren, Stanislav war sogar Konzertmeister, so dass sie das ganze Leben lang übten, probten oder spielten und von allen Frauen nur ihre eigene Mutter richtig kennengelernt hatten. Frau Nováková entdeckte in der Mutter von nebenan sowohl in der Musikalität als auch im energischen Auftreten eine Wesensverwandtschaft. Der Nachbarssohn wurde den Brüdern zur Beurteilung vorgeführt, und beide kamen überein, dass seiner schmächtigen Figur und Natur sicherlich nicht das robuste Klavier entspräche, sondern einzig und allein die zarte Geige. Sein Lehrer wurde der weniger ausgelastete Herr Karel und, noch schlimmer, er kontrollierte durch die Wand, während er selbst spielte, ob und wie sein Schüler übte.
Dieser traute sich erst nach etwa zwei Jahren, einen Trick anzuwenden, bei dem man ihn später peinlicherweise ertappen sollte: Sobald er eine neue Etüde einigermaßen auswendig gelernt hatte, spielte er sie mechanisch immer wieder von vorne und las dabei die auf den Notenständer gelegten Bücher von Jules Verne, Karl May oder diverse Theaterstücke. Herrn Karel bedrückte es zunehmend, dass dem Jungen bei der spürbar ausgefeilteren Technik der Ausdruck vollkommen abhanden ging. Er war es dann, der ihn zum Ansporn beim Schulorchester der Stadt Prag anmeldete und auf einen öffentlichen Auftritt vorzubereiten begann. Der junge Virtuose verspürte sogar Aufregung und Interesse, sobald das erste Konzert nahte, bei dem er zum Erfolg von Mozarts »Kleiner Nachtmusik« entscheidend beitragen sollte. Es schien ihm, als spielte er sie ziemlich brillant, so dass er auch unter den übrigen Konkurrenten innerhalb der Streicher herausragen würde, und als er schließlich aus dem Stimmzimmer heraus das Podium der Smetanahalle betrat, um bei der Probe seinen Platz zugewiesen zu bekommen, drückte er sein Instrument zum ersten Mal mit echter Leidenschaft an sich. Umso größer war dann die Enttäuschung, als ihn der Dirigent in die hintere Reihe schickte. Nie war es ihm auch nur in den Sinn gekommen, den Part der zweiten Geige einzustudieren, und nach langer Zeit begann sein Herz vor lauter Nervosität dann so zu klopfen, dass er schon nach dem ersten Satz in Ohnmacht fiel und erst im Krankenwagen auf dem Weg ins Spital zu sich kam. Die nicht minder aufgeregte Mutter überstimmte dieses Mal das Trio der Nováks, als sie ihren Liebsten so lange aus den Stunden nahm, bis er sich wieder dazu in der Lage fühlte, was allerdings niemals mehr eintrat. Im Nachhinein erscheint es aber wahrscheinlicher, dass zum ersten Mal sein Ehrgeiz revoltierte: Er wollte nicht die zweite Geige spielen!
Und das Klavier der Hirschs? Zum Lernen war es bereits zu spät. Das Leben wird die Pointe in fünf Jahren schreiben. Summa summarum: eine schöne Kindheit. Bis auf die Zeit der Armut, bis auf die Krankheiten und – naja – bis auf den Krieg.
Evangelisch sein
Es ist an der Zeit, jene Hartnäckigkeit zu feiern, mit der die Mutter sich entschieden hatte, nicht zuzulassen, dass eine wie auch immer geartete Zwangsorganisation von Okkupanten oder Kollaborateuren den Jungen beschlagnahmte. Seine nur wenige Stunden andauernde Mitgliedschaft im »Kuratorium zur Jugenderziehung«, in welches ihn der Vertrauensmann der Tertia ohne zu fragen aus Beflissenheit eintrug, beendete sie mit einem fürchterlichen Auftritt in der Amtsstube der jungen tschechischen Nazis, wieder einmal auf jenem runden Platz von Dejvice, indem sie mit einem ärztlichen Attest winkte und sie beschuldigte, mit der Wehrerziehung ihren kränklichen Schatz töten zu wollen. Weil sie gleichzeitig das Sonderrecht der Protektoratskirchen entdeckte, wonach diese eine begrenzte Zahl an eigenen Religionsgruppen haben durften, machte sie sich die einstige Taufe ihres Sohnes zunutze, welche ihn vor dem Kuratorium bis zur Konfirmation abschirmen sollte.
Die evangelische Zeitspanne war verhältnismäßig kurz, aber sie brachte den ersten entscheidenden Umbruch im Leben des Jungen: Ein für alle Mal warf sie die bisherige Einsamkeit und nach und nach auch das Gefühl der Minderwertigkeit von ihm ab. In der Böhmisch-brüderlichen Evangelischen Kirche nahmen ihn auf einmal alle ernst, sie nannten ihn sogar Bruder! Welch eine Musik für die Ohren eines Einzelkinds. Herr Pfarrer Čapek von der Salvatorkirche und der junge Vikar Foltýn verstanden es, ihren Nachwuchs durch bezwingende Lektüre und die Auslegung der Bibel für sich zu gewinnen. Außerhalb der sonntäglichen Gottesdienste unternahmen sie mit ihnen manchmal Radtouren in die Prager Umgebung, wo sie in den Wiesen eine bescheidene Kriegsbrotzeit auf einem Tuch ausbreiteten und ihre Feldflaschen mit Tee-Ersatz öffneten. Dann erzählte man etwas zu den biblischen Gleichnissen. Den literarischen Lehrling faszinierten starke dramatische Geschichten mit versteckten Hinweisen, die viele Auslegungen möglich machten. Für die wöchentlichen Treffen im Bethaus vom Stadtviertel Dejvice verfassten Freiwillige zu einem selbstgewählten Thema Referate. Der erste vom Vater archivierte Versuch trägt den Titel »Zeig mir deine Bibliothek und ich sage dir, wer du bist!«. Der Autor überzeugt darin die gleichermaßen pubertierenden Mitbrüder und Mitschwestern, dass sie sich mit Hilfe von Büchern schneller eine eigene Persönlichkeit aufbauen können. Und weil er keinen Fotoapparat hat, speichert er sich die wichtigsten Erlebnisse der gemeinsamen Ausflüge in Versform ab. In ihnen glaubt der Fünfzehnjährige hartnäckig an die Schönheit, die Liebe und das Glück, aber dann gewinnt fast jedes Mal wieder das Memento mori die Oberhand über seine Hoffnungen, welches ihm den alles durchdringenden Krieg unaufhörlich in Erinnerung ruft.
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