Ingeborg Wressnig - Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie

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1976 erhält Ingeborg Wressnig aus heiterem Himmel die Diagnose: Epilepsie. Der Inhalt des Buches spiegelt ihren eigenen therapeutischen Prozess wider. Sie hat ihre realen Träume, die sie in einem Tagebuch niedergeschrieben hat, dazu verwendet, eine fiktive Autobiografie aus der Sicht der Psychotherapeutin zu entwickeln. Es ist die Geschichte einer Frau, der man gerne zuhört, wenn sie nicht nur von ihrem Alltag und ihren Träumen erzählt, sondern diese als Psychotherapeutin als Inspiration für ihr Leben nutzt. Begleitet wird die Protagonistin vom Balancierer, Symbol für ein gefühltes Verständnis, das der Mensch von seinen Problemen im Körper hat. Die Geschichte beschreibt einerseits die öffentliche Welt, die Protagonistin und ihre Familie, die Medizin und die Ärzte und andererseits die Welt der Psychotherapie in der Zeit von 1974–1994 in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Die Protagonistin versucht sich im Chaos des damaligen psychotherapeutischen Feldes zu orientieren.

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Dr. Ingeborg Wressnig

Der Balancierer

Mein Leben mit Epilepsie:

Die Entwicklung der Psychotherapie

in Österreich 1974–1994

Leykam

Mein Dank geht an

meine Schreibpädagogin Birgit Krenn,

die ersten Leser meines Manuskriptes: meinen Mann Kurt,

meine Töchter Katharina, Anna und Barbara.

Gerald, Uta

Herta, Thordis, Nicole, Rudi, Guido

Arthur Kullnig und

meine Lektorin Frau Mag. Elisabeth Klöckl-Stadler.

Sie alle haben mich ermutigt, mein Buch zu veröffentlichen.

Der Reinerlös des Buchverkaufs kommt dem

Institut für Epilepsie in Graz, Georgigasse 12,

zugute.

Erfolg haben heißt,

einmal mehr aufstehen, als man hingefallen ist.

(Winston Churchill)

1. Traum: Unschuld

Da stand das kleine Mädchen mit seinem roten Lockenkopf. Sein nachdenkliches Gesicht, die winzigen Fältchen auf der Stirn. Seine neugierigen Augen waren auf die singenden Geburtstagsgäste gerichtet. Löwen, Elefanten und Bären aus Zucker schmückten die Geburtstagstorte. Seine mutige Hand, zwischen Neugierde und Skepsis, Freiheit und Anpassung hin und her gerissen, steuerte direkt auf den Löwen zu. Die Hand der Mutter bremste es. Die Wunderkerze fehlte.

Der Rotschopf verwandelte sich in eine Schnecke. Die Schnecke lief Gefahr, von Menschen, Autoreifen, Gift zerstört, zerquetscht, aufgelöst zu werden. Das wollte ich nicht. Ich ging auf sie zu, legte sie auf die Hand und brachte sie in den Weingarten. Dort setzte ich sie auf den Boden und baute ihr ein Schneckenhaus. Sie brauchte Schutz.

Ich wurde gerufen, musste zu den Geburtstagsgästen nach oben, drehte mich um und blickte noch einmal zurück. Ich vermisste meine kleine unschuldige Schnecke, die mehr und mehr einem Regenwurm ähnelte. Jetzt war er verschwunden, verzweifelt rief ich nach dem kleinen Wurm. Panische Angst, ihn zu verlieren, trieb mich durch die Weinhänge. Ich begann zu laufen, zu schreien, bis ich die nasse Decke von mir warf und an einem ganz normalen Tag im November erwachte.

1. Teil

Strafmandat

Ich hatte es eilig. Zuerst musste ich die Uhr zum Uhrmacher, dann das Geld auf die Bank bringen. Milch, Gemüse, Joghurt, Obst einkaufen, Waschmittel, Badezimmerreiniger, Taschentücher besorgen. Das Rezept abholen, für Georg das Auto zum Mechaniker bringen. Wo fand ich einen Parkplatz? Es würde nur fünf Minuten dauern, um die Uhr abzugeben, also stellte ich mich in die Ladezone. Ich legte die Uhr auf das Ladenpult, teilte der Verkäuferin meine Telefonnummer mit, drehte mich um und huschte hinaus. Da standen sie, die beiden Herren von der Polizei.

„Na, Fräulein, stehen wir schon eine halbe Stunde in der Ladezone?“

„Nein, fünf Minuten.“

„Das glauben aber auch nur Sie.“

„Das glaube ich nicht, das weiß ich.“ Ich blickte auf die Uhr. Leider hatte ich keine mehr an meinem Handgelenk.

„Na, was zeigt Ihre Uhr?“

„Ich habe sie vor fünf Minuten in den Laden getragen, um sie richten zu lassen.“

„Und wie können Sie dann wissen, dass es nur fünf Minuten waren?“

„Bitte hören Sie auf mit Ihren Machtspielen.“

„Na, Sie sind ja ganz schön emotional aufgeladen, normal ist das nicht mehr, Sie gehören ja in die Psychiatrie!“

„Kann ich bitte Ihren Namen und Ihre Dienstnummer haben?“

Die Herren wurden unsicher und gaben mir, worum ich sie gebeten hatte.

Zu Hause angekommen fragte ich mich, wieso mein Verhalten, reif für das „Irrenhaus“ war. Ich suchte im Duden nach dem Wort „verrückt“ und fand: „1. krankhaft wirr im Denken und … 2. auf absonderliche, auffällige Weise ungewöhnlich, … 3. über die Maßen, außerordentlich, sehr auffallend abscheulich, bestialisch, böse, bullig, dick, ekelhaft, eklig, elend, enorm, entsetzlich, fabelhaft, furchtbar, fürchterlich, gemein, gewaltig, grässlich, grauenhaft, mächtig, mörderisch, niederträchtig, teuflisch, unheimlich, unsinnig …“

Leg sofort das Buch weg, sonst machst du dich wirklich verrückt!

Kindheit

Dreißig Jahre führte ich ein wohlgeordnetes Leben. Diese Ordnung könnte mit meiner Kindheit zusammenhängen. Jedoch nicht unbedingt mit dem Jahr 1944.

Die Luftangriffe der USA kosteten weit über 20.000 Menschen das Leben. Schwere Schäden entstanden an öffentlichen Versorgungseinrichtungen, Verkehrs- und Industrieanlagen. Es war abzusehen, dass die Rote Armee, von Ungarn kommend, die Reichsgrenze erreichen würde. Tante Freda erzählte mir, dass meine Mutter unter dem Donner der Flak und dem Krachen und Dröhnen der einstürzenden Häuser zweimal von ihrem Frauenarzt in den Luftschutzkeller des Sanatoriums getragen wurde. Dann, am 8. November 1944, war es so weit, ich erblickte in Graz das Licht der Welt. Meine Mutter war überglücklich, nach zwei Buben ein Mädchen in ihren Armen zu halten. Mein Vater musste sechs Kilometer zu Fuß von seiner Arbeitsstelle in die Innenstadt gehen, um mich in seine Arme zu nehmen. Straßenbahn- und Eisenbahnlinien waren von den Bombenangriffen zerstört worden. Die Gemeindemühle und das Kraftfutterwerk, das mein Großvater gepachtet hatte, waren wie durch ein Wunder verschont geblieben. Aber die Wohnung meiner Eltern am Lendkai war schwer beschädigt und unbewohnbar.

Zu jener Zeit war mein ältester Bruder Alexander wegen Scharlach im Spital, wo ihm Tante Freda eine Ansichtskarte von Mutti übergab. Mutti hatte ihm geschrieben, dass er sich freuen könne, weil er jetzt eine Schwester habe. Er wollte keine Schwester, er wollte seine Mutter. Mein zweiter Bruder, Martin, wusste auch nichts mit einer Schwester anzufangen.

Erzählungen meines Vaters zufolge war es eine grauenhafte Zeit. Der letzte Gauleiterbefehl an meinen Großvater war ein Fahrbefehl nach Schladming, um dort unverzüglich eine leistungsfähige Mühle aufzustellen. Schladming liegt in der Obersteiermark, im oberen Ennstal. Die Stadt wird im Norden umrahmt vom Dachsteingebirge und im Süden von den Niederen Tauern. Im Ennstal gab es Tausende Flüchtlinge und Hunderte Waggons mit Getreide zum Brotbacken, aber keine einzige Mühle.

Meine Brüder waren damals an den Grünen See in Tragöß umquartiert worden. Der Grüne See ist ein Stillgewässer und füllt sich beim Einsetzen der Schneeschmelze mit kristallklarem Wasser, wobei das Wasser selbst natürlich farblos ist, aber durch die Brechung des Lichtes und durch das vorhandene Gestein schimmert es in einer smaragdgrünen Farbe. Später erzählten meine Brüder immer wieder von der herrlichen Zeit der Indianerspiele rund um den See.

Mein Vater war als Rechtsberater bei meinem Großvater angestellt. Dieser bat meinen Vater, die ganze Großfamilie vom Grünen See in die Ramsau, eine Region nördlich von Schladming zu übersiedeln.

Es war ein Husarenstück, das mein Vater meisterte. Er packte meine Tante, das Dienstmädchen Luise, meine Brüder, Cou­sins und Cousinen in ein Lastauto und fuhr mit der ganzen Schar vom Grünen See in die Ramsau. Zwei Mal wurde mein Vater von den SS-Schergen Adolf Hitlers aus dem Wagen geholt. Sie hielten ihm die Maschinenpistole vor die Nase, in der Annahme, dass er ein Deserteur in Zivil sei. Nur der Wehrpass und der Befehl des Gauleiters retteten ihn vor dem Tod im Straßengraben.

Meine Mutter und ich durften später in die Ramsau, in das Gasthaus Waldhof, nachkommen.

Mit dem Einmarsch der Amerikaner änderte sich die Situation schlagartig. Mein Vater wurde fristlos entlassen. Die Russen nahmen aus der Mühle alles mit, was sie nur bewegen konnten. Die Erleichterung über das Ende des Krieges im Mai 1945 und die Hoffnung, dass es in Österreich nur besser werden könnte, überwog alle Gefühle der Erschöpfung und Enttäuschung.

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