Steffi Woschilda blickte wie betäubt vor sich nieder. Ihr war sterbenselend zumute. Wie stolz und selbstbewußt war sie noch vor kurzem gewesen und wie elend und in Fetzen gerissen lag nun ihr Stolz und Selbstbewußtsein im Staube. Nun durfte sie nicht mehr spielen, ihr „krasser Dilettantismus“ erregte die Nerven der schönen verwöhnten Frau, und ihre Tage würden deshalb fortan keine Feierstunden mehr haben. —
Sie sann einen Augenblick, schlüpfte dann in ihren alten dunklen Mantel, der ärmlich, eng und ausgewachsen die schlanken Glieder umschloß und band einen Wollschal um das blondumkrauste Köpfchen. Steffi wußte, daß Frau Oswaldic von solcher Ausfahrt wie heute nicht vor zwei bis drei Stunden heimzukehren pflegte. Deshalb wollte sie ins Dorf gehen, um die Mutter zu besuchen. Vor vierzehn Tagen hatte diese das Lehrerhaus räumen müssen, und der neue Lehrer war mit seiner Mutter dort eingezogen. Julie Woschilda hatte alle überflüssigen Möbel, darunter auch das Tafelklavier, verkauft und sich ein Stübchen beim Schneider Wenzel unfern dem Schulhause gemietet.
Julie Woschilda empfing die Tochter wie stets mit brummigem Gesicht, trotzdem ihr Steffi bisher ihren ganzen Lohn getreulich abgeliefert hatte. Verkniffen stöhnte sie über die enge Stube, in der sie nun hausen müsse, und darüber, daß die Mutter des jungen Lehrers Matausch an gewöhnlichen Arbeitstagen einen funkelnagelneuen schweren Rock trage und ein wollenes Tuch mit langen Fransen.
Hinter all dem neidischen Gestöhn lagen viele Vorwürfe für Steffi, die sich darunter ergebungsvoll zusammenduckte, aber die erste Gelegenheit wahrnahm, aufzubrechen.
Langsam wanderte sie wieder der weißen Villa zu. Unterwegs holte sie ein Herr ein, groß, schlank und vornehm aussehend. Er trug keinen Bart, und seine Augen standen dunkel und leuchtend in dem scharfgezeichneten Gesicht. Ein voller Blick traf Steffi, dann ging der Herr weiter, und das junge Mädchen sah ihn vor sich in der Villa verschwinden.
Steffi wollte ihr Zimmer aufsuchen, auf dem oberen Flur trat ihr die Zofe von Frau Oswaldic entgegen. „Wo bleiben Sie denn nur? Die gnädige Frau ist heute schon nach einer knappen Stunde heimgekehrt und hat bereits dreimal nach Ihnen gefragt.“
Steffi zog eilig den Mantel aus, warf den Schal ab und eilte, so schnell sie vermochte, die Treppe hinunter.
Jutta Oswaldic befand sich nicht allein, der Herr, der Steffi vorhin begegnet, stand neben ihr und ließ eben ihre beiden ringfunkelnden Hände los. Über Jutta Oswaldics Antlitz flog es wie ein Schatten beim Anblick der Eintretenden und gereizt rief sie ihr entgen: „Was wollen Sie denn um des Himmels willen ausgerechnet jetzt, da ich meinen jahrelang abwesenden Bruder begrüße, während man Sie vorhin im ganzen Hause wie eine Stecknadel suchte?“
Steffi stotterte, befangen unter den Männerblicken, die unausgesetzt auf ihr ruhten: „Ich dachte, weil gnädige Frau mit den Kindern ausfuhren, ich dürfte inzwischen vielleicht einmal nach meiner Mutter sehen.“
Jutta Oswaldic machte eine abwehrende Bewegung mit der Rechten. „Wenn Sie Ihre Mutter zu besuchen wünschen, so haben Sie dazu erst vorher meine Erlaubnis einzuholen. Ich liebe es nicht, wenn meine Leute fortwährend ins Dorf hinunterpilgern.“ Sie unterbrach sich. „Aber wie sehen Sie denn aus, Ihr Haar ist ja völlig durcheinander, als kämen Sie eben aus dem Bett. Und so laufen Sie hier im Hause herum? Gehen Sie und kämmen Sie sich — und dann hier, Sie sagten mir, daß Sie sticken können, nehmen Sie das Dutzend Taschentücher und sticken Sie mein Monogramm hinein. Die Zeichnung dazu liegt bei. Hoffentlich leisten Sie Besseres im Sticken als im Musizieren“, setzte sie mit einem kleinen Spottlächeln hinzu.
In Steffi kochte der rasche Zorn hoch, der stets da war, wenn sich ihr Empfinden mit aller Gewalt gegen ungerechte Behandlung sträubte. Sie fühlte die Blicke des fremden hochgewachsenen Mannes mitleidig über sich hinstreifen, und das raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit.
Trotzig hob sie den schmalen Kopf, um den das lichtblonde Lockenhaar so aufrührerisch strudelte, und ihre grauen Augen waren fast dunkel vor Empörung.
„Ich muß sehr bitten, gnädige Frau, mich nicht wie ein hergelaufenes unverschämtes Schulmädel zu behandeln, denn ich gab Ihnen niemals Grund dazu, im übrigen steht es Ihnen nicht zu, ein Urteil über meine Musik zu fällen. Mein seliger Vater war Musiker mit Leib und Seele, er gab mir all sein Können und Wissen, und Sie beleidigen in mir meinen toten Vater, wenigstens empfinde ich es so. Ich versprach Ihnen ja schon, in Ihrem Hause nicht mehr zu spielen, mehr kann ich nicht tun.“
Jutta Oswaldic war bei dieser Rede Steffi Woschildas sehr blaß geworden. Jetzt hob sie die Rechte und auf die Tür weisend sagte sie scharf: „Verlassen Sie mein Zimmer und bis spätestens morgen früh mein Haus, Ihren Lohn wird Ihnen der Diener bringen. Sie scheinen aufrührerisches Blut in den Adern zu haben, und solche Elemente dulde ich nicht um mich.“
Steffi legte die Taschentücher still auf einen kleinen Tisch und schritt der Türe zu. Als sie die Finger schon auf die Klinke gelegt hatte, wandte sie sich noch einmal um und schien etwas sagen zu wollen, vielleicht eine demütige Bitte, doch ein Blick auf das stolze Männergesicht verschloß ihr sofort den Mund, und gleich darauf drückte sie die Tür hinter sich ins Schloß.
„Nun, Werner, was sagst du zu der kleinen Giftkröte?“ lächelte Jutta Oswaldic den Bruder an, neben dem sie sich wie ein zerbrechliches Püppchen ausnahm.
Werner Arneburg zuckte mit den breiten Schultern. „Ich kenne die junge Person ja gar nicht und weiß nichts über ihren Charakter, wenn ich aber ehrlich sein soll, finde ich, du behandeltest sie ein bißchen sehr schlecht, was sie in meiner Gegenwart wohl doppelt peinlich berührte.“
Er ließ das Thema rasch fallen.
„Das Mädchen hat unsere Begrüßung vorhin unterbrochen, also nochmal, Jutta, ich freue mich riesig, daß mir meine Besuchsüberraschung so gut gelungen ist. Denke, ich komme geradewegs aus Rotterdam, wo man, wie du weißt, durchaus eine neue Kirche von Werner Arneburg gebaut haben wollte.“
Jutta Oswaldic drückte den Bruder in einen Sessel nieder, und mit aufleuchtenden Augen fragte sie: „Und sind die Rotterdamer zufrieden mit dem Werk, das ihnen der berühmte Kirchenbaumeister schuf?“
Um die strenggeschnittenen Lippen des Mannes huschte es wie leise Verträumtheit. „Wie kann ich das sagen. Ehrungen, nun ja, die wurden mir in Menge zuteil, Ihre Majestät überreichte mir selbst den Hausorden von Oranien-Nassau, auch konnte ich meiner Berliner Bank einige hohe Geldnoten überweisen, aber ob die Menschen, die nun fortan in dieser von mir erbauten Kirche ihre Predigt hören und zu Gott beten, zufrieden mit mir sind, das weiß ich nicht. Glücklich wäre ich, wenn mir das gelang. Der Gedanke überwältigt mich oft, wenn ich mir ausdenke, da und dort steht nun ein Gotteshaus, und ich durfte die Form dazu ersinnen, ich durfte dadurch so etwas wie ein Mittler sein zwischen Gott und den Menschen.
Er erhob sich. „Aber wo ist Franz, wo sind die Kinder, ich möchte sie doch begrüßen?“
Jutta Oswaldic legte die Arme um den Hals des Bruders und zog seinen Kopf zu sich nieder. „Ich bin so unbändig stolz auf dich, Werner.“
Er küßte ihr schwarzes Scheitelhaar. „Liebes, kleines Schwesterchen.“
Sie ließ ihn frei. „Franz ist in der Fabrik, und die Kinder sind in der Küche, sie schauen zu, wie die alte Köchin Waffeln bäckt, die mögen sie so gern, aber ich lasse sie rufen, sie sollen kommen.“
Der Diener nahm den Befehl entgegen und bald trappelten überhastige kleine Füßchen über den Gang, die Tür flog auf, und zwei dunkellockige Kinder stürmten ins Zimmer.
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