Steffi neigte den Kopf. „Mein Vater starb vor einem Jahr, und nun möchte ich gern etwas verdienen, deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn Sie es mit mir bei Ihren Kindern versuchen wollen, gnädige Frau.“
Die winzig kleine Frau unter dem Vorhang nickte. „Weshalb sollte ich nicht, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Josef und Josefa sehr eigenartig veranlagte Kinder sind.“ Sie trippelte auf hochhackigen Schuhen näher, und ihr lose niederfallendes weißes Tuchkleid umwogte die überschmale Gestalt im Tanzrhythmus. „Lassen Sie sich mal ganz von nahe anschauen“, sagte sie und ging im Kreise um Steffi herum, als betrachte sie ein Kleidungsstück, ein Tier oder auch ein Spielzeug von allen Seiten. „Hm, nett, wirklich, einfach und nett, nicht so ein aufgetakelter Fratz wie das vorige Kinderfräulein, auch keine Vogelscheuche wie ihre Vorgängerin.“ Sie lächelte mit kleinen scharfen Zähnen und zupfte an dem schwarzen Lockengekräusel über der schmalen Stirn herum. „Was können Sie denn? Verfügen Sie über gute Elementarbildung, ich meine, können Sie richtig schreiben und lesen?“
Steffi entgegnete ernst: „Mein Vater war Lehrer, wie ich Ihnen sagte, gnädige Frau.“
Jutta Oswaldic zog mit leichtem Unwillen die schmalen Brauen etwas hoch. „Weshalb denn so empfindlich, meine Liebe? Wer sich in abhängige Stellung begibt, darf nicht stets Prinzessin auf der Erbse spielen.“
Steffi schwieg bis ins Herz erkältet. Jutta Oswaldic fuhr fort: „Also will ich es mit Ihnen versuchen. Wann können Sie eintreten?“
„Sogleich, gnädige Frau.“
„Gut, dann erwarte ich Sie morgen im Laufe des Vormittags. Außer Ihrem Lohn erhalten Sie natürlich freie Wohnung und Essen.“
Steffi verneigte sich. „Ich werde morgen kommen, gnädige Frau.“
Vor der Tür des Lehrerhauses empfing sie schon die Mutter mit fragender Miene. Steffi zwang sich, trotz der Herzensbangigkeit, die sie beherrschte, ein frohes Antlitz zu zeigen.
„Frau Oswaldic hat mich angenommen.“ Julie Woschilda krauste die Lippen. „Man muß zufrieden sein, aber wenn ich bedenke, daß du es gar nicht nötig gehabt hättest, dich mit fremden Kindern abzuplagen. Der Matausch-Alois ist ein feiner städtischer Mann, für den kein Mädel zu schade ist.“
Steffi schlüpfte rasch ins Zimmer, die ewigen Vorwürfe der Mutter quälten sie.
— — —
Am nächsten Vormittag zog sie in der weißen Villa ein. Ein Dorfjunge fuhr ihr auf einem kleinen Handwagen den Korb mit ihren Kleidungsstücken ans Ziel, sie selbst aber trug die Harfe, die in einem verblaßten grünen Tuchfutteral steckte. Ob sie in der Villa würde spielen dürfen, darüber gab sie sich keinen allzu großen Hoffnungen hin, aber sie mußte ihr geliebtes Instrument wenigstens bei sich haben, es betrachten können.
Sie erhielt eine ziemlich große Stube im zweiten Stock neben dem Schlafzimmer der Kinder, und die sechsjährigen Zwillinge Josef und Josefa, beide schwarzhaarig, schwarzäugig, wie dickbackige Engel auf alten spanischen Kirchenbildern, standen erwartungsvoll dabei, als Steffi ihrer Harfe einen Platz anwies.
„Was ist da drin?“ fragte Josef in seiner kurzen, herrischen Art.
„Eine Harfe“, gab die Gefragte freundlich Auskunft.
„Harfe?“ wiederholte der Kleine. „Kenne ich nicht, zeige mir die Harfe.“
Josefa nickte wichtig. „Ich will sie auch sehen.“
Steffi lächelte und schälte das Instrument aus der sackartigen Verhüllung.
Die Kleinen starrten neugierig auf die blanken Saiten. „Was macht man damit?“ fragte Josef.
Steffi zog die Harfe zu sich heran und riß mit schlanken Fingern ein altböhmisches Kinderlied aus den Saiten. Wie das so koseweich wiegte und wogte, wie das neckisch quirlte und lachte und schmeichelnd trostreich schloß.
Josef und Josefa standen mit vorgeneigten Köpfen. „Das war fein!“ entschied Josef.
„War fein!“ bestätigte seine Schwester.
Von dem Tage an mußte Steffi den Zwillingen oft vorspielen, und so wild, trotzig und ungebärdig die Kinder sonst waren, unter dem Zauber der Harfenklänge wurden sie still und lieb. Durch ihr Harfenspiel erreichte Steffi alles bei ihnen, und es dauerte nicht lange, so hingen sie Steffi Woschilda fast mehr an als der sie maßlos verwöhnenden Mutter. Jutta Oswaldic empfand zuweilen ein Gefühl von Eifersucht gegen die blasse Lehrerstochter.
Eines Nachmittags spielte Steffi den Kindern wieder vor, da kam der Fabrikherr den Gang entlang und blieb ein Weilchen wie gebannt vor der Tür des Kinderzimmers stehen, um dann leise einzutreten. Das junge Mädchen unterbrach sofort ihr Spiel.
Josef rief heftig: „Weiterspielen, weiterspielen!“
Der Fabrikherr nickte. „Ja, bitte, spielen Sie weiter, Fräulein Woschilda, und gestatten Sie mir, ein Viertelstündchen Zuhörer zu sein.“
Steffi zierte sich nicht und spielte, glücklich darüber, daß nun auch der Herr des Hauses ihr Harfenspiel in seinem Heim nicht als Störung empfand, wie sie immer heimlich gefürchtet. Ihre frohe Stimmung riß sie hin, und wie ein Jubelgesang quoll es unter ihren Fingern auf.
Franz Oswaldics etwas gedrungene Gestalt stand wie versunken an einen Schrank gelehnt, in dem Kinderspielzeug aufbewahrt wurde, und seine Augen folgten den über die Saiten huschenden Mädchenfingern. Franz Oswaldic war ein Mann der Arbeit, und Vergnügungsstätten suchte er nur um seiner Frau willen Geschmack abzugewinnen. Aber dieses zu Herzen gehende Spiel Steffi Woschildas ließ seine von steter Arbeit des Nachdenkens, Rechnens und Anordnens gestrafften Nerven ein wenig ausspannen. Wie ein wohltuendes Ausruhen kam es dabei über ihn.
Plötzlich ward die Klinke von rascher Hand niedergedrückt. Jutta Oswaldic in einem dunkelgrünen Samtkleid mit grauer Pelzverbrämung klapperte auf hohen Holzhacken über die Schwelle, und unmutig rief sie: „Also hier finde ich dich, Franz, ich suchte dich schon überall.“ Sie wandte sich Steffi zu: „Sie sollten auch weniger auf der Harfe herumklimpern, mich stören und langweilen Sie jedenfalls sehr damit, ich kann so krassen Dilettantismus nicht ertragen.“
Steffi war die kurze, schroffe Art der Dame schon gewöhnt und gewissermaßen dagegen abgehärtet, dieses wegwerfende Urteil über ihr Harfenspiel aber tat ihr empfindlich weh. Bleich bis auf die Lippen stellte sie das Instrument beiseite, und tonlos zwängte sie hervor:
„Ich werde in Ihrem Hause nicht mehr spielen, gnädige Frau.“
Josef schrie laut auf: „Du sollst aber spielen, Fräulein, sonst bin ich schrecklich ungezogen.“
Der Fabrikherr machte einen Schritt auf Steffi zu. „Vergönnen Sie meinen Kindern weiter die Freude, ab und zu Ihre kleinen Zuhörer sein zu dürfen. Mir haben Sie jedenfalls einen schönen Genuß geschenkt. Ich bin kein Musiksachverständiger und kann nicht fachmännisch urteilen, doch meine ich, wer einem durch sein Spiel so das Innerste zu packen weiß, der ist weit über den Dilettantismus hinausgewachsen.“
Er betonte den letzten Satz, und Frau Jutta merkte dieses Unterstreichen.
Sie zuckte die Achseln. „Mein guter Franz, ein paar melodiöse Töne machen dein Urteil befangen, Fräulein Woschilda ist sicher nicht so eingebildet, ihr bißchen Harfengezupf als Kunst einzuschätzen. Josef, Josefa, kommt, wir wollen eine lustige Fahrt machen, hinüber nach Grafendorf zur Waldschenke, ich nehme für unterwegs ein Schächtelchen von den dicken Marzipanküchlein mit.“
Die Kinder sprangen auf, Steffi Woschildas Harfenspiel trat vor so süßer Lockung vorläufig in den Hintergrund.
„Du begleitest uns wohl nach unten.“ Jutta Oswaldic lächelte ihren Mann an, und er, wie stets bezwungen, wenn diese zierliche wunderhübsche Frau liebenswürdig und zärtlich zu ihm war, legte seine Hand in ihren Arm und verließ mit ihr das Zimmer.
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