»Er wird glauben, es gäbe etwas zu feiern«, dachte sie grimmig.
Als sie hörte, wie er in die Garage fuhr, gab sie Butter in die Bratpfanne und entkorkte den Wein.
Jetzt öffnete er die Haustür und hängte seinen Mantel auf, sie hörte das Plumpsen seiner Schuhe, als er sie aufschnürte und gegen die Wand schob. Er stand in der Küche, sah abgekämpft aus.
»Ich fand, wir sollten uns einmal etwas gönnen«, sagte sie.
»Aha. Warum?«
»Warum nicht?«
»Ist etwas Besonderes? Hat einer Geburtstag oder so?«
»Nicht dass ich wüsste, man wird doch wohl noch das Recht haben, sich an einem gewöhnlichen Donnerstagabend etwas zu gönnen, meinst du nicht?«
»Tja.«
Während des Abendessens schwiegen sie. Berit trank von dem Wein, der ihr sofort zu Kopf stieg und sie benebelte.
»Was ist los mit dir?«, fragte er.
»Was soll schon los sein mit mir?«
»Du hast doch was, das sehe ich.«
»Tor. Sag mir ehrlich, findest du mich begehrenswert?«
»Berit!«
»Nun sag doch. Bin ich das? Begehrst du mich, wirst du geil, wenn du mich ansiehst?«
Er schob seinen Teller zur Seite.
»Warum fängst du gerade jetzt davon an?«
»Ich fange nichts an. Ich stelle dir eine klare Frage und will eine klare Antwort. Ist das so verdammt schwierig?«
»Du bist doch meine Frau.«
»Eben deshalb.«
Sie stand auf und ging um den Tisch, stellte sich hinter ihn und nahm seinen Kopf. Er hatte eine kahle Stelle auf dem Scheitel bekommen, dort streichelte sie ihn, ließ dann die Hände abwärts gleiten, den Ärmeln seines Hemds folgen, zu seiner Mitte.
»Berit«, sagte er. »Wir essen gerade!«
Am Samstag nahm sie die U-Bahn nach Hässelby. Es war etwas Besonderes, U-Bahn an einem Tag zu fahren, der kein normaler Arbeitstag war. Ganz andere Fahrgäste, viele Kinder mit ihren Eltern, helle Wagen, andere Farben, andere Geräusche. Es fiel einem viel mehr auf, wie heruntergekommen und schmutzig alles aussah. Der Boden des Wagens war mit Dreck und einer ausgelaufenen Flüssigkeit beschmiert, mehrere Sitze waren schwarz bemalt worden.
In der Nacht war Schnee gefallen, Schnee, der liegen blieb. Sie stieg an der Endhaltestelle aus, und die Erinnerungen kehrten zu ihr zurück, die Erinnerungen an ihre Jugendzeit. Als sie zur Bushaltestelle ging, fiel ihr auf, dass man vor der U-Bahnhalle umgebaut und alles freundlicher gestaltet hatte. Der Lebensmittelladen war verschwunden, stattdessen befand sich dort jetzt ein Supermarkt mit schreiend roten Sonderangebotsschildern.
Sie hatte vorgehabt, zum Friedhof zu gehen, aber weil der Bus nun einmal dastand, fuhr sie die wenigen Haltestellen. Die Sonne glitzerte auf der Schneedecke, ließ ihre Augen tränen. Sie hätte eine Sonnenbrille mitnehmen sollen!
Der Friedhof sah idyllisch aus, fast ländlich mit seinen schneebeschwerten Grabsteinen und den Blaumeisen, die in den Ästen hingen. Rechter Hand der kleinen Kapelle lag ein Haufen schneebedeckter Kränze. Der Freitag war ein typischer Beerdigungstag. Beide Eltern waren an Freitagen beerdigt worden, zuerst die Mutter, zwei Jahre später ihr Vater.
Abgesehen von vereinzelten Autos, die oben auf dem Sandviksväg vorbeifuhren, war es hier still und friedvoll. Der Friedhof ist die Ruhestatt der Toten, so pflegte es am Eingang zu stehen, hier durfte man nicht stören und keinen Streit vom Zaun brechen. Davon hatten die Toten in ihrem Leben schon genug abbekommen. Nun hatten sie das Recht, in Ewigkeit zu ruhen.
Sie war allein. Sie sah sich um, in einem der Mietshäuser an der Fyrspannsgata war die junge Tochter eines Arztes von einem Psychopathen gefangen gehalten worden. Das mochte jetzt wohl ein Jahr her sein. Sie erinnerte sich plötzlich an eine Reihe von Details. An einem dieser Fenster hatte das junge Mädchen gestanden und hinausgeschaut, gehofft, jemand würde sie sehen und auf sie aufmerksam werden. Aber wer wird schon aufmerksam, wenn ein Mädchen an einem Fenster steht? Nicht einmal, wenn sie geschrien und um Hilfe gerufen hätte, wäre sie beachtet worden.
Wie war es diesem armen Mädchen seitdem ergangen? Den Zeitungsberichten zufolge war sie mit dem Leben davongekommen, aber was war mit ihrer Psyche? Die dürfte doch für immer Schaden genommen haben?
Berit fragte sich, welches Fenster es wohl war. In den Boulevardzeitungen hatte es bestimmt Bilder des Hauses gegeben, auf denen das Fenster eingezeichnet war. Bestimmt waren Schaulustige dorthin gepilgert, um zu gaffen. Um den Versuch zu machen, sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der in den Händen eines Verrückten ist.
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: ein Buch über dieses Mädchen zu machen. Sie zu überreden, eine Art Tagebuch über diese furchtbare Zeit als Eingesperrte zu schreiben. Sie wunderte sich, dass Melin & Gartner das noch nicht gemacht hatten, das war doch sonst ein Verlag, der immer auf Draht war. Verbrecher und ihre Opfer, suspekte Gestalten, das ließ sich verkaufen.
Jetzt stand sie also doch da und dachte schon wieder an ihren verdammten Job! Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun!
Suchend ging sie den geräumten und gestreuten kleinen Weg hinab. Hinten links lag es, das Familiengrab, das wohl kaum mehr als zwei Personen beherbergen würde. Familiengrab, so etwas hatte es früher einmal gegeben, als die Leute noch zu Hause blieben.
Das Grab war verschneit. Mit den Handschuhen fegte sie den Stein sauber und sprach die Namen der beiden Menschen aus, die ihre Eltern gewesen waren. Es versetzte ihr einen Stich, sie sollte wirklich etwas öfter herkommen.
Sie hatte Grablichter gekauft, für jeden der beiden eins.
»Eins für Mama und eins für Papa«, flüsterte sie, während sie versuchte, die beiden Dochte anzuzünden, was schwerer war, als sie gedacht hatte. Der kleinste Lufthauch ließ das Streichholz wieder erlöschen. Dabei war es so gut wie windstill.
»Ich denke auf jeden Fall an euch«, flüsterte sie. »Auch wenn es nicht immer danach aussieht, auch wenn ich nicht so oft herkomme. Ich denke manchmal an euch, das wisst ihr doch hoffentlich. Könnt ihr mich jetzt sehen, bewegt ihr euch jetzt über mir, unsichtbar, haltet ihr ein wachsames Auge auf mich? Gerade im Moment würde ich mir wünschen, dass ihr das tätet.«
Sie waren beide an Krebs gestorben. Ihr Vater war Kettenraucher gewesen, seine mühsamen Atemzüge standen ihr noch vor Augen, sein Kratzen am Hemdkragen, wenn er nicht genügend Luft bekam.
»Was immer du tust, Mädchen, fange nie mit dem Rauchen an«, hatte er ihr gesagt. Jedes Mal, wenn sie ins Krankenhaus kam, hatte er seine Worte wiederholt, »fange nie mit dem Rauchen an!«
Er wusste nicht, dass sie bereits angefangen hatte. Nicht einmal der Anblick der ausgemergelten Gestalt dort auf dem Bettlaken konnte sie dazu bewegen, wieder aufzuhören.
Ihre Mutter hatte Hautkrebs gehabt, die gleiche Krankheit, an der Tage Danielsson, der Kabarettist, irgendwann in den achtziger Jahren gestorben war.
Sie waren schon alt, als sie Berit bekamen, so alt, wie sie selbst heute war. Sie hätten ebenso gut an Altersschwäche sterben können. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie glaubte, unfruchtbar zu sein. Aber als sie eine ganze Woche lang jeden Morgen das Frühstück wieder erbrach, musste sie einsehen, dass sie es nicht war.
Berit verließ das Grab mit den beiden Kerzenflammen, die in der Januarsonne kaum zu erkennen waren. Sie folgte dem Hässelby Strandväg und ging an dem Haus vorbei, in dem sie aufgewachsen war. Es hatte sich nicht verändert. Sie fragte sich, wer jetzt dort wohnte, aber es regte sich nichts, der Gang zur Haustür war weiß und nicht freigeschaufelt.
Hier war sie als Kind täglich gegangen, auf ihrem Weg zur Schule, die ein ganzes Stück entfernt lag. Es waren mehr Häuser geworden, ansonsten schien die Zeit hier seltsam stillzustehen. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihren früheren Klassenkameraden, erinnerte sich kaum noch an ihre Namen.
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