Sie redigierte gerade ein Buch über das Segeln. Sie verstand nicht besonders viel vom Segeln, aber da das Buch herauskommen sollte und sie den Auftrag bekommen hatte, sich darum zu kümmern, wollte sie sich möglichst keine Blöße geben.
Tor hatte ein Boot gehabt, als sie sich kennen lernten, und natürlich war es schön gewesen, zwischen den Schären hinauszugleiten und sich einen Ankerplatz für die Nacht in einer geschützten Bucht zu suchen. Aber alles andere! Er wurde so schnell gereizt, verlangte von ihr, die Übersicht über alle Leinen und Taue zu behalten, und in Krisensituationen vergaß er völlig, dass sie dazu nicht in der Lage war. Dann gab es Streit und unangenehme Szenen.
Sie verkauften das Boot und kauften sich stattdessen ein Wochenendhäuschen. Oder was man so Häuschen nennt. Es handelte sich um ein recht großes Haus, Anfang des Jahrhunderts gebaut und auf der Insel Vätö gelegen. Winterfest, so dass sie Weihnachten dort feiern konnten, was sie auch regelmäßig taten. Letztes Mal waren ihre beiden Söhne gekommen und hatten ihre Freundinnen mitgebracht.
Berit ging in die Markthalle am Hötorg. Es war kurz nach eins. Um diese Zeit war der größte Andrang schon vorbei. Sie bestellte einen Avocadoteller mit Krabben und einen großen Café au lait und setzte sich an einen der Tische in der Nähe der Blumenabteilung. Wie viele hübsche Tulpen es im Moment gab, welch herrliche Farben! Wenn das Thermometer jetzt noch ein paar Grad unter Null fiele und es ein wenig Schnee gäbe, sähe alles schon viel heller und freundlicher aus.
Die Avocado war ein wenig hart. Sie erwog, mit ihrem Teller zum Tresen zurückzugehen und sich zu beschweren, blieb dann aber doch sitzen. Wie oft hatte sie schon in dieser Markthalle gegessen? Mindestens einmal die Woche in all den fahren, die sie die Stelle im Verlag hatte. Sie versuchte, es im Kopf auszurechnen, sagen wir sechsundvierzig Wochen mal vierzehn, das macht, das macht, das macht...
Moment, letztes Jahr, als sie fünfundvierzig wurde, war sie verreist. Tor hatte sie mit den Tickets zu einer Weltreise überrascht.
»Konntest du nicht warten, bis ich fünfzig werde!«, rief sie aus, fast bestürzt über seine plötzliche Großzügigkeit.
Er hatte sie umarmt, schnell und unbeholfen.
»Wer weiß, ob wir noch so lange leben.«
Sie reisten und blieben fast zwei Monate fort. Das machte acht Wochen und dementsprechend achtmal, die sie nicht hier in der Halle gegessen hatte. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Taschenrechner, konnte ihn aber nicht finden.
Stattdessen war sie gezwungen, einen Kugelschreiber hervorzuholen und es schriftlich auszurechnen, genau wie Fräulein Messer es ihnen damals vor sehr langer Zeit in der Schule beigebracht hatte.
Sie kam auf weit über sechshundert Mal.
Also, weit über sechshundert Mal hatte sie hier unten in diesem kleinen Restaurant unterhalb der Rolltreppe gegessen.
Das ist dein Leben, Berit!
Immer öfter hatte sie ihr Leben satt. Immer öfter überkam sie das Gefühl, dass ihr Leben seinen Zenit überschritten hatte, als hätte es das bereits vor langer Zeit getan, und als wäre jetzt alles zu spät.
Alles, was denn alles?
Berit redete manchmal mit Annie darüber, die ihr Büro nebenan hatte. Sie hatten ungefähr gleichzeitig im Verlag angefangen, waren beide vorher länger mit den Kindern zu Hause gewesen, hatten beide Söhne.
Ja, alles ... Worauf man gewartet hatte, etwas, das noch kommen sollte.
Annie gab ihr Recht. Sie war vier Jahre jünger und gab ihr trotzdem Recht.
Ich frage mich, wann es aufgehört hat, dachte sie. Ich frage mich, wann man sich aus einem aktiven und jungen Menschen voller Erwartungen in eine roboterähnliche Maschine verwandelt hat.
Sie war wirklich noch nicht alt. Es kam vor, dass die Männer sie mit diesem besonderen Ausdruck im Blick betrachteten, aber in der Regel erst, wenn sie ihr vorgestellt worden waren. Ansonsten fiel sie kaum noch auf. Sie pflegte ihren Körper, pflegte ihr Gesicht, zeigte sich nie ungeschminkt, nicht einmal auf dem Land. Alle fünf Wochen ging sie zum Friseur, einem schwarzen und schönen Mann, der genau wusste, wie sie die Haare haben wollte.
Schade, dass er »andersrum« ist, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf, ich habe noch nie mit einem Neger gebumst. Sie wurde rot, als würde sie sich schämen.
Sie ließ den Blick über die Verkaufsstände schweifen. Fast immer traf sie irgendeinen Bekannten hier unten, so war es auch heute, da drüben glitt soeben Elisabet über den Boden der Markthalle, sie hatte eine ganz eigene Art, gleichsam vorwärts zu fließen, alles beiseite zu wischen, was sich ihr in den Weg stellte.
Jetzt entdeckte sie Berit, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Liebste, kleine Berit, sitzt du hier ganz solo? Darf ich mich einen Moment zu dir setzen und einen ... was trinkst du, café latte? Ich nehme auch so einen.«
»Eigentlich hatte ich gerade vor zu gehen. Aber setz dich ruhig, einen Moment kann ich ruhig noch bleiben.«
Elisabet war auch in der Verlagsbranche tätig, arbeitete aber in dem großen, weißen Haus am Sveaväg, dem Albert Bonniers Verlag.
»Wie geht es dir, Schätzchen, siehst du nicht ein bisschen blass aus?«
»Wirklich?«
»Ach was, das ist vielleicht nur das Licht hier. Ja, ganz bestimmt ist es das.«
»Um ehrlich zu sein, ich fühle mich ein wenig müde.«
»Tatsächlich? Wir haben doch über Weihnachten ein paar Wochen frei gehabt, oder hast du etwa Weihnachten gearbeitet?«
»Nein, das nicht. Aber ... nicht auf diese Art müde.«
»Ich weiß, was du meinst, es ist dieses ewige graue Wetter. Wenn es wenigstens etwas kälter würde, ich sehne mich nach Eis. Wir sind noch kein einziges Mal mit den Schlittschuhen unterwegs gewesen. Und dabei ist es Mitte Januar. Ob das wohl an El Niño liegt, was meinst du? Ist er es, der uns alles verdirbt, kommt der so hoch in den Norden?«
»Keine Ahnung.«
»So oder so, es ist ein Trauerspiel. Und, gibt es was Neues?«
»Nicht dass ich wüsste. Und bei euch, wie läuft es bei euch?«
»Bestens, viel zu tun.«
»Bei uns auch. The same procedure ... Alles wiederholt sich. Ich glaube, ich verliere allmählich die Lust.«
»Aber Kleines ... Habt ihr denn gar keinen Spaß?«
»Wie man’s nimmt.«
Elisabet lehnte sich über den runden, weißen Eisentisch.
»Ist denn was dran an der Sache, dass ... Curt Lüding verkaufen will?«
Curt Lüding war Berits Chef. Er hatte den Verlag Mitte der siebziger Jahre gegründet, gehörte damals zu den jungen Oppositionellen, die auf die Barrikaden gingen. Zu jener Zeit hatte er Undergroundliteratur und gesellschaftskritische Romane verlegt. Damit hatte er inzwischen aufgehört. Die Zeiten hatten sich geändert.
»Dieses ständige Gerede«, sagte sie, verspürte aber doch ein Rumoren in der Magengegend.
»Du hast also nichts gehört?«
»Nein, du etwa ...«
»Ach, ich weiß nicht ... Nein, es ist bestimmt nichts dran.«
»Meinst du etwa, dass Bonniers kaufen will?«
»Ja.«
Berit pickte mit ihrer Gabel ein Maiskorn auf und stopfte es sich in den Mund.
»Solche Gerüchte sind irgendwie unangenehm«, sagte sie. »Vielleicht geht es einem deshalb so schlecht. Man weiß, was man hat, oder so ähnlich. Ich werde mich dieses Wochenende den Teufel um den Job scheren, ich werde keinen einzigen Gedanken an ihn verschwenden! Stattdessen werde ich zusehen, dass ich viel draußen bin, einen langen Spaziergang machen, so werde ich den Samstag verbringen. Ich fahre raus nach Hässelby und sehe nach dem Grab, dann kann ich da draußen ein wenig spazieren und nostalgisch werden. Ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mehr da gewesen.«
Auf dem Rückweg schaute sie noch schnell in ein Geschäft für extravagante Unterwäsche herein, das auf der Drottninggata lag. Sie probierte ein paar BHs an und entschied sich für einen glänzenden, roten Bügel-BH und einen dazu passenden Slip. Das grelle Licht in der Umkleidekabine ließ ihre Hüften und ihren Bauch schlaff und blass aussehen.
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