Karl Arne Blom
Man spricht von Sphärenmusik, als könnte man einen Zustand in Tönen schildern. Es heißt, daß eine Tonlage oder eine Melodie einen Gemütszustand auszudrücken vermag. Nun war es Winter.
Der Winter hatte sich in Schonen und in der Stadt Lund früh eingestellt.
Jetzt war es Nacht.
Eine dunkle Winternacht, die vom Schnee auf dem Boden erhellt wurde.
Der Schnee war in diesem Jahr früh gekommen, sogar ungewöhnlich früh für diesen südlichen Landesteil. Schon um den ersten Advent herum war die Witterung radikal umgeschlagen. Die Kälte hielt die Stadt umklammert. In den Nächten war es so kalt, daß man die Bäume knacken hörte. Tagsüber kniff der Frost die Leute in die Wangen und färbte sie rot.
In den ersten Dezembertagen hatte es zu schneien angefangen.
Zuerst fielen die Flocken gleichsam schüchtern und verschämt, als bäten sie um Entschuldigung für ihre Aufdringlichkeit.
Aber mit jedem Tag fiel der Schnee ausgiebiger.
Nicht genug damit, daß der Schnee fiel, er blieb auch auf dem Boden liegen, ohne zu Matsch zu werden, ohne zu schmelzen.
So wurden im Verlauf der Zeit Straßen, Bürgersteige, Rasen, Dächer, Bäume und alles ringsum weiß.
Die Stadt Lund wurde in eine freundliche, weiße und beruhigende Decke gehüllt.
Die Bewohner freuten sich auf eine weiße Weihnacht.
Es war das Jahr 1969.
Die Melodie, die man ahnte, erinnerte an ein weiches, abrollendes Saxophonsolo in ein wenig wehmütiger Tonart.
Die durchfahrenden Reisenden, die durchs Fenster eines Eisenbahnabteils einen Blick auf die Stadt erhaschten oder sie vom Auto aus betrachteten, gewannen den Eindruck einer friedlichen Idylle.
Im großen und ganzen war dieser Eindruck vielleicht richtig. Lund ähnelte den Städten, die man in den alten englischen Weihnachtsfilmen zu sehen bekommt: mit dem Schnee, den niedrigen Häusern, den freundlichen Menschen, den Tannen im Lichterglanz, den weihnachtlich geschmückten Fenstern, den Girlanden über der Haustür. Es sah wie eine Stadt aus, die keinen Raum hat für Gewalttätiges, Brutales oder Erschreckendes.
In Wirklichkeit aber war Lund keine romantische Weihnachtspostkarte mit schmuckem Schnee, Sorglosigkeit und warmherziger Freude.
Ein wütender Trompetenstoß zerschnitt die Stimmung, die das Saxophonsolo schilderte.
Ganz plötzlich tauchte er vor dem Auto auf. Um ein Haar wäre er überfahren worden. Bei etwas höherem Tempo hätte es ihn sicher erfaßt und auf die Straße geschleudert. Dann wäre der kleine Körper zu Boden gestürzt, und die Räder wären darüber hinweggerollt.
Fraglich, ob die kleine Gestalt mit dem Leben davongekommen wäre.
Zum Glück reagierte der Fahrer schnell und bremste, so daß das Kind vor der Motorhaube vorbeihuschte, ehe es von dem schwarzen Volvo erfaßt wurde.
Nach ungefähr zehn Metern brachte der Fahrer den Wagen zum Stehen. Die Reifen bissen sich auf dem schlüpfrigen Boden fest, und der Wagen zitterte nach der jähen Bremsung.
Der Mann am Steuer blickte in den Rückspiegel.
Aber die Gestalt, die er fast überfahren hätte, war nicht zu sehen. Er drehte sich um und spähte durch das Rückfenster, doch ohne einen Menschen zu gewahren.
Er kurbelte das Seitenfenster herunter, steckte den Kopf hinaus und schaute nach hinten.
Er sah nur die weiß verschneite Straße.
Er sah die Bremsspur im Schnee und unter einer Laterne den Abdruck kleiner bloßer Füße.
Da wurde ihm klar, wie nahe er daran gewesen war, die Gestalt zu überfahren.
Kalter Schweiß brach ihm auf der Stirn aus, und der Magen drehte sich ihm um.
Er seufzte erleichtert auf und dankte dem Himmel, daß er nicht schneller gefahren war.
Während er immer noch mit hinausgestecktem Kopf rückwärts schaute, kramte er mit bebender Hand in der Tasche nach einem Zigarettenpäckchen. Seine Zähne klapperten, und sein keuchender Atem stieg dampfend auf. Weiße Wölkchen, bei jedem Atemzug eins.
Den Mann, der neben ihm saß, hatte er vollständig vergessen.
Der Mitfahrer war zusammengesackt, nachdem er sich beim plötzlichen Bremsen den Kopf an der Windschutzscheibe angeschlagen hatte.
Der Knabe auf der Schaukel
Es war Freitag, der neunzehnte Dezember, kurz nach Mitternacht, als der Schnee so weiß lag, als der Atem wie Wolken aus dem Munde der Menschen aufstieg, als der Fahrer des Streifenwagens um ein Haar den kleinen Jungen überfahren hätte, der so plötzlich vor dem Kühler aufgetaucht war.
Er schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.. Und man konnte meinen, er sei auch ins Nichts verschwunden.
Der Fahrer wußte nicht, was er davon halten sollte. Er fragte sich beunruhigt, ob er wohl ein Gespenst gesehen habe.
Das Kind war da gewesen, einen kurzen Augenblick beleuchtet vom Lichtkegel der Scheinwerfer.
Der Fahrer holte tief Atem und dachte an seinen eigenen Sohn, der jetzt zu Hause schlief.
Er dachte auch daran, daß das Bett des Kindes im Schlafzimmer der Eltern stand. Er wußte, daß die Mutter ebenfalls in ihrem Bett lag und schlief. Der Polizeibeamte dachte an seine Familie.
Er war grundsätzlich bereit, sein Kind und die Mutter seines Sohnes um jeden Preis gegen alles Übel zu schützen.
Er konnte nicht begreifen, wie es möglich war, daß ein Kind in dieser kalten, verschneiten Dezembernacht zu so später Stunde plötzlich vor seinem Wagen auftauchte.
Der Polizeibeamte hieß John Fransson.
Er war hochgewachsen, dunkelhaarig, hatte ein ovales Gesicht mit Aknenarben, ein Schnurrbärtchen unter der geraden Nase und sehr kleine Hände mit kurzen, weichen Fingern.
Er war dreißig Jahre alt und seit fünf Jahren verheiratet. Sein Sohn war vier Jahre alt.
Die kleine Gestalt, die so plötzlich vor dem Auto aufgetaucht war, mochte etwa fünf sein.
Der Mann auf dem Beifahrersitz war Franssons Kollege, Stig Rosén.
Er war von gedrungenem Wuchs, hatte blondes Haar, ein rundes glattrasiertes Gesicht mit kleiner Nase, volle Lippen und große Hände mit dicken Fingern. Er zeigte sich ziemlich oft mürrisch und verdrossen.
Er war siebenunddreißig Jahre alt.
Er hatte keine Familie und fühlte sich öfters einsam.
Rosén war ein Polizist der alten Schule. Er glaubte an Gesetz und Ordnung. Er stand vor der Fahne stramm und hielt das schwedische Königshaus für etwas nahezu Gottähnliches.
Seine einzige Liebhaberei war der Beruf.
In der Freizeit trainierte er eine Jugendmannschaft im Handball und übte sich selbst im Schießen.
Fransson verbrachte fast seine ganze Freizeit mit der Familie, und er fand es, im ganzen genommen, nicht besonders bemerkenswert, Polizeibeamter zu sein. Das war ein Beruf wie jeder andere.
Er war Republikaner und sehr musikalisch. Er behauptete steif und fest, die Nationalhymne klinge schlecht. Wenn er sie hörte, schämte er sich beinahe, Schwede zu sein.
Fransson hatte das unbehagliche Gefühl, das Polizeikorps sei im Begriff, sich zu militarisieren. Diese Entwicklung sagte ihm keineswegs zu.
Außerdem ärgerte es ihn, daß das Patrouillieren neuerdings fast ausschließlich im Auto vorgenommen wurde, daß man nur selten aussteigen konnte und kaum jemals zu Fuß durch die Straßen ging, unter Menschen.
Rosén kam zu sich.
Fransson hörte ihn stöhnen und wurde sich bewußt, daß sein Kollege neben ihm saß.
„Wie geht’s? Hast du dich angeschlagen?“ fragte er.
„Angeschlagen ... Wie fährst du eigentlich?“ brummte Rosén und rieb sich die Stirn mit der Handfläche. Er verzog das Gesicht. „Jetzt bekomme ich natürlich Kopfschmerzen. Wie fährst du bloß?“
„Hast du den Jungen nicht gesehen, der uns vors Auto gesprungen ist?“
Читать дальше