Als ihre Mutter, Siv Ljunggren, vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunglück verletzt worden war, hatte Ewa-Lena fünf Monate lang bei Nils und Gun Göransson gewohnt.
Ewa-Lena wurde mehrmals verhört, und jedesmal schilderte sie in allen Einzelheiten, was sich auf dem Rücksitz von Göranssons Auto abgespielt hatte. Demnach war es öfters zum Geschlechtsverkehr gekommen.
Ein halbes Jahr später, im März 1972, wurde ein Psychologe zugezogen. Er sollte ein Gutachten erstellen.
Aus der Expertise ging hervor, daß Ewa-Lena gern dramatisierte, zu Hysterie neigte und mehrmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war.
In einigen Punkten stimmten ihre Angaben dem Psychologen gegenüber nicht mit ihren Aussagen beim polizeilichen Verhör überein.
Der Psychologe fragte sich, ob das Mädchen wirklich die Wahrheit sprach. Ihm hatte sie unter anderm gesagt, Göransson habe sich mit ihr im ehelichen Schlafzimmer vergnügt.
Inzwischen war Nils Göransson verhaftet worden, genauer gesagt, im Januar. Er blieb bei seiner Aussage, er habe mit dem Mädchen keinen Geschlechtsverkehr gehabt.
Gun, seine Frau, war überzeugt, daß Ewa-Lena die ganze Geschichte erfunden hatte.
Vier Tage nach der Verhaftung erlitt Nils einen Herzinfarkt und lag dann drei Monate im Krankenhaus.
Eines Tages, Mitte Oktober 1972, erfuhr der Psychologe, das Mädchen sei einige Wochen nach der Anzeige gegen Göransson wegen Unterleibsbeschwerden von einem Gynäkologen untersucht worden.
Er ließ sich die Krankengeschichte kommen.
Die Beschwerden hatten nichts mit dem angeblichen Geschlechtsverkehr zu tun gehabt. Vor allem aber stand in dem Protokoll, daß Ewa-Lena zur Zeit der Untersuchung unberührt gewesen war.
Der Psychologe setzte sich mit dem Frauenarzt in Verbindung.
Der Gynäkologe hielt es für ausgeschlossen, daß Ewa-Lena die von ihr geschilderten Erlebnisse gehabt hatte.
Hierauf erwirkte der Psychologe eine Besprechung mit dem zuständigen Polizei-Inspektor. Er erfuhr, daß man nach der Anzeige gegen Göransson sofort eine gynäkologische Untersuchung beantragt hatte. Aber das Mädchen hatte sich geweigert, sich untersuchen zu lassen.
Die Polizei hatte sich damit begnügt und Nils Göransson verhaftet.
Ewa-Lena wurde aufs neue verhört.
Da bekannte sie, alles erfunden zu haben.
Im Gutachten des Psychologen stand: „Ewa-Lena Ljunggren hat eine stark erotisch gefärbte Phantasie und ist außerstande, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. An und für sich ist das bei Mädchen in der Pubertät nichts Ungewöhnliches. Das hätte man jedoch bei den Ermittlungen bedenken sollen, zumal der Verdächtigte die gegen ihn erhobene Anklage hartnäckig bestritt. Das Mädchen ist mythomanisch veranlagt und hat eine abnorme Einbildungskraft. Es wäre wünschenswert gewesen, mich früher heranzuziehen, da ein derartiger Fall Sachkenntnis verlangt, über die Polizeibeamte nun einmal nicht verfügen.“
Ewa-Lena wohnte im selben Haus wie Inger Elwing.
Sie war nicht zum letztenmal mit der Polizei in Berührung gekommen.
Der Winter 1971/72 war der trübste und nebeligste, den man in dieser Gegend seit Menschengedenken erlebt hatte. Allerdings zog mitten im Oktober ein Schneesturm über Lund, und fast eine Woche lang lag der Schnee einen halben Meter hoch. Dann aber kam das Elend: der Nebel.
Von Anfang November bis Ende Februar weigerte sich die Sonne eigensinnig, sich sehen zu lassen.
In Lund gab es nur Nebel, Sprühregen, Gräue und unangenehm rauhe Luft. Den Menschen, die zu Erkältungen und Rheuma neigten, ging es schlecht.
Kriminalinspektor Martin Holmberg litt wegen der Luft unter Beschwerden.
Im Februar wurde Roger Andersson dreizehn Jahre alt. Seine Luftröhrenbeschwerden verschlimmerten sich in dieser Zeit.
Martin Holmbergs Leiden war allergischer Art und weniger schlimm. Roger hatte mehr auszustehen.
Die Tatsache, daß es ihm schwerfiel, sich die Lungen richtig mit Luft zu füllen, machte ihn mitunter apathisch. In den schwermütigsten Stunden haderte er mit dem Schicksal, weil er sich benachteiligt fühlte. Dann wurde er ein ziemlich streitsüchtiger, schwieriger und aggressiver Junge.
Rogers Mutter, Ulla, war unverheiratet und dreiunddreißig Jahre alt.
Seinen Vater hatte Roger nie kennengelernt; er wußte nicht einmal, wer es war.
Ulla wußte es natürlich, aber sie hatte ihn in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Ulla Andersson war früher rauschgiftsüchtig und Alkoholikerin gewesen.
Es war ihr gelungen, sich von den schlechten Kreisen, in denen sie verkehrt hatte, zu lösen und dem Laster zu entsagen. Sie arbeitete als Verkäuferin in einem Warenhaus und lebte mit ihrem Sohn zusammen in einer modernen Zweizimmer-Wohnung, deren Miete für sie eigentlich zu hoch war. Ulla Andersson hatte es schwer, Freunde zu finden.
Die Nachbarn schnitten sie und zeigten ihr die kalte Schulter. Einer der Gründe war sicher der Umstand, daß Ullas alte Freunde sie aufzusuchen pflegten, wenn sie in eine Klemme gerieten. Dann bewirtete sie sie und half ihnen. Sie wußte selbst, daß es nicht richtig von ihr war.
Die meisten, fast alle, die Ulla aufsuchten, waren zwielichtige Erscheinungen. Schließlich waren es die einzigen Menschen, mit denen sie Umgang hatte.
Sie verführe die Jugend, Rauschgift zu kaufen, munkelten die Nachbarn.
Sie habe immer nur mit Männern zu tun, die viel jünger seien als sie, meinten einige Nachbarsfrauen.
Ulla verfiel aufs neue dem Alkohol. Sie begann ihre Arbeit zu vernachlässigen und verfiel in tiefe Depressionen.
Ihr Zustand steckte Roger an.
Nach der Schule ging Roger oft in ein Freizeitheim.
Sowohl hier als auch in der Schule wurde er von den andern Kindern gemieden, die ihre Eltern schlecht von seiner Mutter reden hörten.
Er entwickelte sich bald zu einem streitsüchtigen, schwierigen Problemkind.
Er wollte der harte Anführer einer wilden Bande werden. Schließlich setzten die Eltern der anderen Kinder es durch, daß er von dem Freizeitheim ausgeschlossen wurde. Man könne nicht mit ihm fertig werden, hieß es.
Manchmal lehnte sich Roger gegen Ullas Lebensweise, gegen ihren Rückfall auf. Dann kamen seine Enttäuschung und seine eigene Verzweiflung zum Ausdruck. Aber meistens zeigte er seine Gefühle nicht.
Statt dessen erklärte er sich solidarisch mit seiner Mutter, und seine Erbitterung zeigte sich darin, daß er sich von seinem Lehrer und den Kameraden in der Schule und im Freizeitheim lossagte.
Zu Hause wurde er ein Plagegeist für die übrigen Bewohner. Er hustete im Treppenhaus so laut, daß es widerhallte, und er gab erst Ruhe, wenn eine Tür aufgerissen wurde und eine Frau ihn anschrie, er solle gefälligst Ruhe halten. Die Mitbewohner wußten nichts von seinem chronischen Luftröhrenkatarrh.
So kam es, daß sich Rogers Abscheu gegen die Gesellschaft schon in früher Jugend entwickelte und eines Abends im Frühjahr 1972 ihn dazu trieb, an allen Fahrrädern, die im Hof standen, den Sattel zu zerschneiden.
Sonderbarerweise wurde Roger von keinem als der Übeltäter verdächtigt.
Sonst hätte er sicher mit der Polizei Bekanntschaft geschlossen. Dazu sollte es erst zwei Jahre später kommen.
Ewa-Lena und Inger kannten einander schon lange. Im Herbst des Jahres 1972 schlossen sie Freundschaft.
Am 13. Oktober konnte man den folgenden Artikel in einer Abendzeitung lesen:
Quälerei eines sehbehinderten vierjährigen Kindes
„Nun kommt eine Wespe und sticht dich!“
Das sehbehinderte vierjährige Mädchen sah die Wespe nicht. Aber es fühlte den Stich an Armen, Beinen und Rücken. Das tat weh. Rings um die Kleine standen drei Mädchen, die älter waren. Alle drei lachten, während zwei von ihnen die Kleine mit brennenden Zündhölzern und glühenden Zigaretten quälten. Ehe „das Spiel“ vorbei war, hatte die Vierjährige 28 Brandwunden!
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