Henze fühlte eine gewisse Befriedigung: nun würde doch etwas los sein. Er studierte die Zeitungen, die ihm der Student zusteckte.
Das hätte sich Richard John früher auch nicht träumen lassen, als ihn sein Vater, der Pastor in Meseritz, ans Graue Kloster nach Berlin brachte, dass er, der Theologie studieren sollte, so bald zur Medizin umsatteln würde. Wenn sein Alter das wüsste! Aber kann ein freier Mensch Theologie studieren? Nur ein Heuchler kann das, oder ein ganz und gar subalterner Geist. Und das hätte der junge Student auch nicht geglaubt, dass ihm so viel daran liegen könne, diesen einfachen Arbeiter an sich zu fesseln. Es war eben jetzt alles anders geworden; alles, was jung war, gehörte zusammen.
Der Student, der in der Zeitungshalle, in Stehelys Konditorei am Gensdarmenmarkt und bei Spargnapani alles las, was es zu lesen gab, rief oft den Schlosser zu sich herein, wenn er dessen schweren Schritt abends auf der Treppe hörte.
Da sassen die beiden dann bei der kleinen Lampe in der kahlen Studentenbude. Der Student hatte Butter und Wurst von Hause bekommen, und er brühte von dem russischen Tee auf, den die Mutter verehrt bekommen hatte von einem ihrer Brüder, der Grosshändler war in Lübeck. Der Tee war stark, der Student machte ihn noch stärker, er goss Rum zu; und je mehr er sich ereiferte, desto mehr Rum goss er. Der junge John war ein gewandter Redner; er hatte das ererbt, er konnte reden ohne Punkt, es floss ihm nur so.
In einem naiven Staunen lauschte der Schlosser. Er, der Ältere, fühlte sich jetzt dem Jüngeren untertan. Sie schwitzten beide vor Rum und Begeisterung, sie mussten ans Handtuch gehen, das nahe dem Schellenzug an der geblümten Wand hing, und mussten sich die betränten Gesichter abwischen.
Draussen ging der Sturm durch die Strassen. Sie hörten ihn pfeifen und pusten, tuten und heulen, rauschen und brausen, mit Dachziegeln poltern, mit Läden klappen, Umstürzen, was nicht niet- und nagelfest war, ungestüm die Schornsteine fegen, mit Sausen um alle Ecken tosen, mit Jauchzen an alten Mauern rütteln.
Und sie sahen sich an mit leuchtenden Augen. Durch die dämmergraue, kahle, winterlich-frostige Studentenbude zog es kündend mit froher Verheissung. Und sie nickten sich zu: das brachte den Frühling! — — —
Hermann Henze hatte in seinem Leben noch nicht viel Zeitungen gelesen. Es stand ja auch nur darin, was die Zensur gestattete, und das Erlaubte hatte ihm nie viel Spass gemacht. Jetzt aber bekam er Flugblätter in die Finger. Sie kamen aus Süddeutschland nach dem Norden geflogen, und er las sie mit rotem Kopf. An den Karikaturen, die von Hand zu Hand gingen, hatte er seinen Spass, und doch fuhr er oft nachts aus dem Schlaf und ballte zornig die Faust — er hatte geträumt. Es war ihm noch, als hörte er die Glocken läuten, die Sturmglocken der Stadt, die sich sonst nur hören liessen bei grossen Feuersbrünsten. Sie läuteten und läuteten, sie dröhnten in seinen Ohren, er wurde ganz wirr davon.
Und wenn er an solchem Morgen auf dem Weg zur Arbeit durch die Schützenstrasse ging und spähte, ob er vielleicht einen Blick mit dem geliebten Mädchen tauschen könne, und das Schulzesche Häuschen noch mit geschlossenen Läden dalag, von Minne nichts zu sehen war, dann ballte er wiederum die Faust.
Und wenn er abends nach Arbeitsschluss nochmals vorbeischlich, alles finster und stumm lag, über der Schulzeschen Tür nur eine winzige Laterne brannte, dann fühlte sein Herz eine bis dahin nie gekannte Erbitterung.
Jetzt konnte er den Studenten so gut verstehen, den er neulich, als er an seine Tür geklopft hatte, um ihm Zeitungen wieder zurückzubringen, in Hemdärmeln gefunden hatte, mit offener Brust, ein Rapier in der Hand, in seiner Bude für sich ganz allein zum Stoss auslegend und parierend, mit einem Ernst, als ginge es ans Leben. Nach gedonnertem ‚Herein!‘ war er auf der Schwelle stehen geblieben; der Student aber hatte das Rapier hingeworfen, war auf ihn zugesprungen, hatte ihn an der Hand bis mitten in die Stube gerissen und blitzenden Auges herausgestossen: «Man will uns unser Höchstes nehmen, das lassen wir uns nicht gefallen — Schlosser, Mensch, was?! Kommen Sie morgen abend mit nach den Zelten. Wir versammeln uns da — eine Menge Kommilitonen. Und alle möglichen Leute: Künstler, Bürger, Gelehrte, Handwerker — alle Welt. Wir sind jung. Die Jugend hat zu fordern — und sie fordert. Sollen wir uns von den Franzosen etwa beschämen lassen? Und von den kleinen deutschen Staaten, die bereits all das erlangt haben, wonach wir noch seufzen? Eine Schande für uns! Aber morgen, warten Sie nur, Henze, da werden wir’s formulieren. Eine Adresse an den König wird aufgesetzt. Er muss, wenn wir nur wollen! »
Und ein Frühling war gekommen, so früh, wie Berlin noch keinen hatte kommen sehen. Fast war dieser März der sandigen Mark wie sonst ihr Mai. Alles trieb, sprosste, grünte. Heller Sonnenschein alle Tage, so golden und wärmend, dass einem die Stube verhasst wurde.
Unter den Linden, wo sonst von elf bis eins nur die feine Welt promenierte, auf den Bänken die geputzten Ammen mit den Kindern der Reichen sassen und den Tönen der Militärmusik lauschten, die von der königlichen Wache herüberflogen, spazierten jetzt auch eine Menge anderer Leute: Studenten, Handwerker, Bürger, Bummler. Bewegt ging’s auf und ab. Gruppen fanden sich zusammen und sprachen leise; kam ein Schutzmann in Sicht, so stoben sie auseinander, verteilten sich, um sich an anderem Platz wieder zusammenzufinden.
Manch einer wischte sich den Schweiss ab: war das ein Frühling!
Draussen vorm Brandenburger Tor trieben die alten Bäume des Tiergartens Blätter, blühten unter den dichten Büschen die blauen Veilchen und die weissen Sterne der Anemonen, und auf den Wiesen Tausende von rotgeränderten Gänseblümchen. Da liessen die schwarzen Amseln unablässig aus ihren goldenen Schnäbeln vollen, warmen, verführenden Lenzruf erschallen, überall Leben und Farbe, Lockung und Hoffnung.
Unter den Zelten, wo auf dem grossen Platz die Sandsteinfigur aus der Zeit des grossen Königs steht, drängten sich Weiber mit sauren Gurken und warmen Knoblauchwürsten, mit Schnaps und Schrippen, und dreiste Jungen schrieen sich heiser: «Zigarro! Zigarros mit avec die fö
! Freiheit un Jleichjiltigkeit un Roochen in’n Dierjarten! »
Eine ungeheure Menge hielt den Platz besetzt. Das war ein Meer von Köpfen, ein summendes Gewoge von blonden und dunklen Häuptern, von hohen Zylindern und kühn gekrempten Schlapphüten, von den Mützen der Studenten und den abgeschabten Bedeckungen der Proletarier. Aber wenn ein Redner auf die Tribüne trat, auf der sonst ein Orchester harmlose Weisen in den Wald des Tiergartens hinausgespielt hatte, dann verstummte das Summen. Es wurde totenstill.
Wie ein Mann lauschte die Versammlung der Tausende. Wie bei Meeresstille glätteten sich all die Wellen, sie erstarrten gleichsam. Man lauschte, lauschte den Reden, die nicht überall in der weiten Runde verstanden werden konnten, von denen nur einzelne Sätze jedes Ohr erreichten. Mahnworte, Weckrufe, Vorschläge, Forderungen — Trompetenstösse hinaus geschmettert in die linde Luft dieses Frühjahrs.
Die Hüte und Mützen flogen von den Köpfen, aber die heissen Stirnen kühlte der feuchte Waldhauch des Abends nicht, sie glühten wie vor einer entscheidenden Schlacht. In die Meeresstille hatte der Sturmwind geblasen, die Wellen fingen wieder an, auf und ab zu wogen, sich zu kräuseln, sich zu bäumen, hin und her zu schlingern, zu rollen und zu grollen. In weiter Ferne, bis spät in die Nacht hinein, hörte man das Brausen dieses bewegten Meeres.
In der stillen Schützenstrasse hörte man von diesem Brausen nichts. Christian Schulze merkte nur, dass wo anders etwas los sein musste, daran, dass weniger Gäste bei ihm einkehrten in letzter Zeit. Was war denn los? In der Zeitung, die er zu Gesicht bekam, stand nicht viel, und die Jugend, von der er sonst immer etwas zu hören bekommen hatte, die kam jetzt nicht; auch der Schlosser nicht mehr. Das war ihm eigentlich lieb, und doch ärgerte er sich: na, mit dem seiner Liebe zu Minne war’s auch nicht weit her! Jakob hatte um Rahel ein bisschen länger gedient. Hoffentlich machte das dumme Mädel sich nichts daraus. Sie war jetzt oft so blass — ach was, das machte das Frühjahr! Wo der verfluchte Kerl bloss stecken mochte?!
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