Christian Schulze war aufgesprungen vom Abendtisch, in einer ganz kriegerischen Haltung stellte er sich hin — Bauch rein, Brust raus — den Arm krümmte er, als hielte er ein Gewehr, und dann ging er mit so dröhnenden Schritten auf und ab, dass alles in der kleinen Küche zitterte. «Ein Hundsfott, wer seinem König was zu leide tun lässt! »
«Ach ja, »sagte Frau Lene und faltete die Hände. «Na ja, du hast ja ooch Anno dreizehn schon mitjemacht! »
Der Schwiegersohn räusperte sich, er hätte gern jetzt eine passende Bibelstelle vorgetragen, aber seine Male sagte resolut: «Morjen früh jehn wir wieder nach Haus. Is ja lächerlich, dass wir ausjekratzt sind! »Und darüber entsetzte sich Siebert so, dass er nur herausbrachte: «Das muss sich doch erst zeigen! »
Aber die Muntere lachte ihn aus, und ihre jüngeren Schwestern lachten auch: «Mach man lieber jleich zu Muttern nach Perleberg, wenn du so bange bist! »Und die Kleinste mit den flachsblonden Kringeln um die Ohren fing an, ganz ausgelassen um den Tisch zu hüpfen und abzuzählen:
«Eene kleene Kaffeebohne
Wollte jern nach Engelland,
Engelland war zujeschlossen
Un der Schlüssel abjebrochen.
Jcks, acks, u,
Raus bist du! »
Aber der Vater gebot: «Ruhe doch! »nahm sein Käppchen herunter, drehte es gedankenvoll zwischen den Fingern und sagte dann ernsthaft: «Wenn der man selber wüsste, wat er zu duhn hätte! Aber det is ja det Malhör, er weess et nich! »
«Meinste Sieberten, Vater? »fragte Lene.
«Ach was, den doch nich, »sagte ärgerlich Vater Schulze und setzte sein Käppchen wieder auf. «Macht jetzt alle, dass ihr zu Bette kommt! »
Die Nacht war herabgesunken auf Berlin. Es wurde nach und nach leer auf den Strassen. Zu merken war es nicht mehr, dass vor wenigen Stunden noch Tumult geherrscht hatte. Ruhig lagen jetzt die Häuser, unerhellt, grau und farblos in der bleichen Mitternacht. Friedliche Stille. Kein Gröhlen, kein Johlen. Nicht mehr das Trappeln und Stampfen der vielen Menschentrupps, die am Abend noch in geschlossenen Kolonnen die Strassen durchzogen hatten. Selbst die Bierkneipen, in denen es die letzten Tage immerwährend aus- und eingegangen war, hatten heute früh geschlossen. Eine grosse Ermüdung lag über der Stadt, ein bleierner Schlaf der Ermattung wie bei einem Menschen, der sich über Gebühr angestrengt hat. Oder war es der Schlummer eines, der da weiss: du musst Kräfte sammeln, morgen gilt’s Taten?
Das Militär war in die Kasernen zurückgezogen worden; scheinbar verlassen lag der graue Koloss des Königlichen Schlosses, nur schwacher Fackelschein, der aus den Höfen fiel, liess merken, dass da noch die Kaiser-Franzer biwakierten und die Potsdamer Garde.
Auf der Kurfürstenbrücke stand einsam der grosse Ahne, der Mann von Erz; kein Pöbel drängte mehr an ihm vorbei. Es war so still, er hörte in seinem ewigen Schlaf das leise Rauschen der Spree, die in langsamen Wellen ihre trüben Wasser aus der Stadt herauswälzte.
Scheinbar war alles zur Ruhe gegangen. Die milde Frühlingsnacht wandelte auf leisen Sohlen, um keinen Schläfer zu stören: aber da waren doch noch welche, die wachten.
Im Königlichen Schloss wachte der Mann, der sein Volk beglücken wollte, dessen ‚liebe Berliner‘ nur Fremde, Bösewichter, Verführer aufgereizt hatten, und den doch sein Volk nie verstand.
Es wachten die Stadtverordneten und der Magistrat im Köllnischen Rathaus; man bestimmte die Deputation, die morgen beim König vorstellig werden sollte: Entlassung des Ministeriums, freisinnige Verfassung, Abzug des Militärs, Bürgerbewaffnung.
Es wachten die Offiziere: gab denn der König noch immer nicht Befehl, auf den Pöbel zu schiessen? Man würde schiessen, und gern.
Es wachte ein Mädchen, das seiner verlorenen Liebe nachweinte, und ein anderes, das voll fiebernder Ungeduld der Zukunft entgegensah.
Es wachten auch die beiden jungen Männer in der Junkerstrasse. In der Stube des Studenten sassen sie. «Ich kann nicht schlafen, »sagte Richard John, «das Herz klopft mir. Wir stehen jetzt endlich vor der Entscheidung. Das Volk ist in Waffen. Es muss sich nun zeigen, ob er bewilligt, was wir wollen, oder ob es wieder nur leere Versprechungen sind, an deren Köder wir hängen bleiben sollen. Keine Versprechungen, wir glauben ihnen nicht mehr! Taten, Erfüllungen! Überall in den Provinzen Aufstand, die Rheinlande machen sich frei von Preussen. Was die am Rhein können, können auch wir! Mensch, Henze, »— er packte den Schlosser an beiden Schultern — «wache mit mir, ich kann nicht schlafen! »
Und dem Schlosser erging es ähnlich, auch er hatte fiebernde Unruhe im Blut. Nicht umsonst hatte der Student ihn überall mitgeschleppt; er hatte Reden gehört, die entzünden sollten und die auch entzündet hatten. Es empörte ihn, zu sehen, wie man friedlich ihres Weges Gehende behandelte; anständige Bürger hatte man angehalten, Frauen und Kinder mit dem Kolben beiseite gestossen. Und ihn hatte heute so ein elender Kerl, ein Affe im bunten Rock, abführen lassen wollen, ihn, weil er nur die blaue Arbeiterbluse trug und sich vor dem Schloss aufgestellt hatte unter die andern! Aber er hatte sich gerächt: sich hoch aufrichtend, hatte er mit starker Stimme angestimmt:
«Kadett, Kadett, Kaldaunenschlucker,
Tragen Hosen ohne Futter,
Gestickte Kragen, nischt im Magen — »
Er war nicht zu Ende gekommen mit dem:
«Goldne Tressen, nischt zu fressen. »
Der blutjunge Leutnant war totenblass geworden, er hatte den Degen aus der Scheide gerissen, er hätte ihm den in den Leib gerannt, wäre nicht ein Haufe Volks dazwischengeflutet und hätte mit seiner Welle die blaue Bluse weggespült von dem bunten Rock.
Wenn Hermann Henze daran dachte, flog ihm noch der Atem. Nicht aus Furcht, aber aus Wut. Was erfrechte sich so einer, der um zwei gute Groschen, vielleicht um ein bisschen mehr, herumlief in der Affenjacke, aufs Wort parierte, sonst aber dem Herrgott den Tag abstahl und aufgeblasen war wie ein leerer Windbeutel?!
Er fühlte sich ganz im Recht: hatte er denn etwa mitgeschrieen, als die anderen schrieen? Er hatte nur zugesehen, wie die Deputationen ins Schloss eilten und wieder herauskamen, und hatte selbst da nicht seine Stimme erhoben, als alles rund um ihn her mit Pfeifen und Johlen den Sechspfünder begrüsste und die Haubitze, die im Lustgarten aufgefahren wurden.
Aber nun ballte er die Fäuste: das war keine Behandlung, die sich ein ehrlicher Arbeiter gefallen liess! Jetzt wusste er, was es heisst, nach Recht und Freiheit verlangen. Das war keine Freiheit gewesen, die man bis jetzt gehabt hatte; man hatte es nur all die lange Zeit nicht so schwer empfunden, weil man’s nicht besser wusste. Der Vogel, der im engen Bauer aus dem Ei gekrochen ist, der weiss eben nicht, was es heisst, frei flattern; aber wenn er einmal zwischen den Stäben hindurchgeschlüpft ist, dann will er nicht mehr in den Käfig.
Henze hob seine mächtigen Arme, liess die Fäuste niederfallen, als hielten sie einen Schmiedehammer. «Wenn’s man losginge! Wenn es man morgen losginge! »Die Ungeduld sprühte aus seinem Ton. Er konnte es kaum noch erwarten. Und wenn dann der Sieg errungen war, die Freiheit, wenn der arme Geselle ebensoviel galt, wie der reiche Meister, dann —! Einen Augenblick flogen seine Gedanken zu Minne.
Er hatte jetzt nicht mehr so viel an sie gedacht wie sonst, er war auch nicht mehr an ihrem Hause vorbeigeschlichen, er hatte keine Zeit mehr dazu gehabt. Er wusste es selber nicht, dass die Gestalt der Freiheit, wie er sie sich vorstellte, und wie er sie begehrte mit einer Begeisterung, die aus dem Ungestüm seiner Sinne etwas Höheres, Reineres, Edleres machte, die Züge seines Mädchens trug. Die Freiheit — Minne! Minne — die Freiheit! Das waren die Bilder, die im späten Schlafe nach Sonnenaufgang an ihm vorüberzogen.
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