Und wie zum Hohn stieg voll und rein und unbeirrt der Gesang empor zu dem Sternenzelt, das sich erhaben, goldflimmernd, unendlich klar heute über der Siegesgöttin wölbte. Brausend wie von einer Orgel, auf der alle Register gezogen sind, tönte es durch die Nacht:
«Freiheit, die ich meine,
Die mein Herz erfüllt ... »
Bei Wilhelmine Schulze war Luise Witte. Mit gefalteten Händen sass Minne auf dem Schemel vor ihrem Bett, hing den Kopf auf die Brust, und eine Träne nach der andern rollte langsam über ihre Wangen. Dass der Schlosser, dieser nette Mensch, der sie doch gern zu seiner Frau haben wollte — er hätte sie lieb, August Lehmann hatte das zu Mieke gesagt, und sie, ja, sie hatte das auch immer geglaubt — dass dieser Mensch so einer war! Anfänglich hatte sie widersprochen: nein, das konnte nicht sein! Das wollte sie doch nicht glauben.
Aber Luise hatte gesagt: «Denkste noch dran, wo wir ihn zuerst jesehen haben? Da drehte er sich auch hinter der Böhmischen rum, da, vor dem Haus, da, wo — na, du weisst ja schon! Da hat er sie jedenfalls jrade besuchen wollen, wir kamen nur damals zwischen. Und wenn ich dir sage: ich hab ihn reinjehn sehn — ich — ich schwör es dir — jlaubste es mir nu? »
«Dann soll er gehen! Ich will nichts mehr von ihm wissen! »In beleidigtem Mädchenstolz sprang Minne auf, die Röte des Unwillens färbte ihr Gesicht, die Tränen hörten auf zu rinnen. Aber gleich darauf brach sie in Schluchzen aus, und sich an den Hals der Freundin klammernd, klagte sie: «Oh, wie schrecklich, wie schrecklich ist das! »
Ja, schrecklich war es! Luise presste die zuckenden Lippen aufeinander. Das hätte sie doch nicht gedacht, dass es Minne so nahe gehen würde! Auch ihre Augen fingen an sich zu feuchten, ihr Herz krampfte sich in Mitgefühl — aber sie musste ja dabei bleiben, musste, musste. Es schrie in ihr: Lügnerin, Verleumderin! Es drängte sie, sich vor Minne niederzuwerfen: da, tritt mich, ich bin nichts Besseres wert, ich hab dich ja belogen — aber sie blieb hochaufgerichtet stehen, eisig stumm, und löste die Arme der Schluchzenden sich vom Halse.
Es war still im Zimmer, im ganzen Haus. Kein Gast war da. Unten in der Küche sassen die Töchter um die Mutter gedrängt; man sollte nicht auf die Strasse.
«Es wird den Hauswirten in Erinnerung gebracht, bei entstehendem Auflauf ihre Häuser zu schliessen. An Eltern, Schullehrer und Herrschaften ergeht die Aufforderung, ihre Kinder, Zöglinge und Gesinde im Hause zurückzuhalten. »
Wer nach der Aufforderung des kommandierenden Offiziers, nach dem dreimaligen Trommelschlag nicht augenblicklich nach Hause ging, der wurde mit Gefängnis bestraft. Das war gestern bekanntgegeben worden.
Vater Schulze war in die Stadt gegangen, obgleich ihn seine Lene himmelhoch gebeten hatte, daheim zu bleiben. «Jotte doch, Vater, wat willste bloss da, misch dir nich mang! »
«In de Schützenstrasse sitzt man ja wie aufs Dorf — der Mensch muss doch mal sehen — der Mensch muss doch ooch mal wissen! »Christian Schulze hatte auf einmal das Gefühl, auch mit dabei sein zu müssen.
Heute am frühen Morgen war sein Schwiegersohn, der Kürschnermeister, angekommen und hatte die Male und den Jungen gebracht. Es war ihm in seiner Spandauerstrasse nicht mehr recht geheuer. Seit dem gestrigen Abend machten sie in der Königstadt Radau.
«Nanu, »hatte Schulze gesagt und sein schwarzes Tuchkäppchen mit der gestickten Bordüre aus goldgelber Seide nach hinten geschoben: «Und wenn schon, Siebert, ick bitte Ihnen, Sie werden doch vor so’n paar Schreier nich jleich Bange kriejen?! »
Bange?! Das wies der ehrsame Meister, der noch dazu recht gross und stark war, weit von sich, jedoch er wollte seine Male und seinen kleinen Schreier für alle Fälle in Sicherheit bringen. Auf den Mittag erschien aber auch er. An seinem Ladenfenster hatte allerlei Gesindel gelehnt und mit begehrlichen Blicken nach den Muffen gestiert. Da hatte er geschlossen. Was sollte er auch in der verödeten Wohnung? Seine Bibel hatte er mitgebracht; er gehörte zu den Stillen im Lande. «Den Friedfertigen gibt Gott Gnade, »wollte er vorlesen aber die jungen Schwägerinnen fingen an zu kichern, und die dralle Male bekam einen roten Kopf, nahm ihm das Buch aus der Hand und klappte es zu und sagte ein wenig ungeduldig: «Na ja! »
Nun aber hatte ihn der Schwiegervater ins Schlepptau genommen. Auf dem Schlossplatz sammelte sich schon seit Tagen, sobald es dunkelte, eine Menge Menschen an. Sie lärmten und schrieen. Was wollten sie eigentlich? Die Polizei kam nicht zu Rande mit ihnen, sie wurde ausgelacht. Auch an die Soldaten kehrte sich kein Mensch. Die sperrten wohl ab nach der Breiten- und Brüderstrasse zu, aber während sie dies taten, kam man einfach über die Lange Brücke von der Königstrasse her. Wenn der alte Kurfürst nicht so fest gestanden hätte, man hätte ihn mit umgerissen. Man liess sich das Ansammeln eben nicht verbieten.
Ein paar Schutzleute hatten schon Steinwürfe bekommen, und die Bürger, die sich wichtig machen wollten mit ihren weissen Armbinden, mit dem weissen Stabe in der Hand herumzogen und Ruhe geboten, hatten bald ihren Spitznamen weg: ‚Leichenbitter‘.
Die Stadt war wie ein Ameisenhaufen, in den ein unbedachter Knabe mit seinem Stückchen gestöbert hat. Weh dem, dem die aufgescheuchten Tiere ankriechen! Sie beissen.
Schon hatte man einen Waffenladen gestürmt, sich einfach herausgenommen, was an Waffen zu finden war. Ruhig hatte der Inhaber mit ansehen müssen, wie seine Flinten, seine Pistolen, seine Säbel, seine Degen, seine Dolchmesser unter Jubelgeschrei verteilt wurden. Wenn man sie nicht mehr gebrauchte, würde er sie wiederkriegen. Er konnte ja auch seine Rechnung beim König einreichen — bezahlen würde der schon. Von jetzt an war das Volk die bewaffnete Macht. Fort mit dem Militär!
Es kam etwas Drohendes in die Massen. Jeder kleine Knäuel von Menschen schwoll bald an zur Lawine, zu einer Lawine, die sich mit unbestimmtem Getöse durch die Stadt wälzte.
«Freiheit — Militär zurück — zum König, er soll unsere Forderungen hören — wir sind keine Knechte — zum König, zum König! »
«Man keene Bange nich, »sagte Christian Schulze und strich seiner Lene, die bis zum späten Abend auf sein Nachhausekommen hatte warten müssen, beruhigend über den prallen Oberarm. «Radau machen se jenug, aber Hunde, die bellen, beissen nich! »
«Die Witten war hier, »sagte die Frau ganz ängstlich, «ob du nich ’ne Flinte hättst? Weisste, du hast doch die Flinte überm Bett zu hängen, sie hat se sich einfach runterjelangt. »
«Bist du des Deibels? »Schulze schrie seine Frau an: wie konnte sie zugeben, dass das tolle Weib mit der Flinte, mit seinem alten Vorderlader, den er Anno dreizehn getragen hatte, davonlief?!
Er rannte hinüber, die Witten war nicht zu Haus, keiner von den Männern, nur die Luise war da. Aber die musste geschlafen haben, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, ihre Augen waren rot und ganz dick verquollen. Von der Flinte wusste die dumme Gans natürlich nichts. Empört kam Schulze zurück: wenn sie ihn noch drum gebeten hätte! Dann hätte er ja am Ende nicht nein sagen können, obgleich er nicht einsah, warum das Weibsbild sich bewaffnen musste. «Det soll se man hübsch uns Männern überlassen! »
«Vater, willste dich denn auch bewaffnen? »fragte seine Jüngste, die Miele, die ihre flächsernen Zöpfchen in Kringeln über den Ohren trug.
«I wo, »sagte Mutter, «frag nich so dumm! »
Aber der Vater wandte sich dem Kinde zu und sprach mit Nachdruck: «Wenn alle losjehn, kann ick mir da ausschliessen? Se sagen alle: wenn der König das Militär nich ruhig in die Kasernen belässt, wenn er vor allem die Potsdamer Jardefüsiliere, die er sich hat kommen lassen, nich wieder retur schickt, denn — »Er nahm sein Käppchen ab und wischte sich über die heissgewordene Stirn. «Un ick sage ooch: muss da nich selbst ’nein ruhigen Bürger die Jalle hochkommen? Wozu braucht der König Soldaten ums Schloss? Hat er so’n Bammel? Nee. Aber er hört auf zu viele. Se wer’n ihm schön zusetzen, dem armen Mann! Was der Prinz, sein Bruder, der Wilhelm, is, der is natürlich für die Soldaten. Aber det is jrade falsch. Soldaten weg! Nirjends is der König so sicher wie in die Mitte von seine Bürjer. Da soll mal eener kommen! »
Читать дальше