Henry Ford
Kapitel 3
Grundlagen
Für das Entstehen und Gedeihen der Öko-Habitate gibt es neben der Bewusstseinsentwicklung eine weitere wichtige Voraussetzung. Es ist nicht damit getan, ein Öko-Habitat mit enthusiastischen Öko-Freaks und Fortschrittsbeflissenen zu füllen. Mit genügend Bewusstsein und Gutwillen werden sie zwar imstande sein, die technischen Abläufe zum Funktionieren und Ineinandergreifen zu bringen, aber das Ergebnis wird nur eine perfekte technokratische Struktur sein. Um die zukünftigen Lebensräume wirklich mit zukunftsorientiertem Leben zu füllen, ist mehr nötig als die Anwesenheit der optimalen Anzahl von Menschen. Die Menschen müssen auch einen Bezug zueinander haben, der über die Einrichtung und Aufrechterhaltung der Funktionsprozesse hinausgeht.
Wenn dieser Bezug fehlt, wie es zum Beispiel häufig in schnell hochgezogenen Wohnsilo-Ghettos und Trabantenstädten der Fall ist, deren Bevölkerung nicht zusammengewachsen ist, sondern zusammengewürfelt wurde, dann sind soziale Auswüchse die Folge, wie Ghettobildung, Gewaltbereitschaft, Vereinsamung, soziale Kälte und Ähnliches. Was dann fehlt, ist das Wir-Gefühl, der soziale Bezugspunkt, der Rück- und Zusammenhalt und die Wärme der Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft ist ein Grundpfeiler der menschlichen Existenz, wenn nicht sogar des Lebens an sich. Die allerursprünglichste, physische Form der Gemeinschaft ist das Zueinanderfinden der ersten Atome zu großen Gasmassen und zu Molekülen; ihre Verschmelzung, die Fusion zu höherwertigen Elementen, ist sozusagen das Ergebnis oder der Genuss dieser Gemeinschaft. Daraus sind dann in letzter Konsequenz Sonnen und Planeten und ihre Gemeinschaftsformen Galaxien und Sonnensysteme entstanden. Auf dem einen oder anderen dieser Planeten bildete sich dann eine komplexere Form der Gemeinschaft heraus. Es entstand das Leben, zuerst in Form von Einzellern und dann von Mehrzellern, die sich zu Gruppen zusammenfanden und begannen, ihre Umweltbedingungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Und diese Entwicklung setzte sich in der gesamten Natur fort, mal deutlicher sichtbar, mal fast nicht wahrnehmbar.
Gemeinschaft macht stark und erfolgreich, und u.a. die Gemeinschaft hat es dem Menschen ermöglicht, zur dominierenden Spezies auf diesem Planeten zu werden. Die Gemeinschaft bot nicht nur Schutz vor Feinden und konnte durch Zusammenarbeit eine zuverlässigere Versorgung mit allem bieten, was man zum Leben braucht, sondern sorgte auch für gegenseitige Unterstützung und Hilfe, und bot vor allem auch Wärme und Geborgenheit.
Darum war früher die Gemeinschaft oder der Clan von immenser Bedeutung und kam in den meisten Belangen vor dem Individuum. Wenn man die Natur so betrachtet, könnte man vielleicht sogar sagen, dass das Individuum umso weniger zählt, je größer die Gemeinschaft ist und je straffer sie organisiert ist.
Mit zunehmender Technologisierung des menschlichen Lebens traten aber immer mehr Aspekte des Gemeinschaftswesens in ihrer Bedeutung zurück. Die Entfernungen sind subjektiv geringer und die Mobilität ist größer geworden, so dass für das Individuum die unmittelbare Gemeinschaft immer verzichtbarer wird. Auch die Abhängigkeit der Versorgung hat sich durch Handel und sich immer stärker ausbreitende Geldwirtschaft anonymisiert. Die Funktion des Schutzes wurde an allgemeingültige Gesetze und an den Staat, die Polizei und das Militär delegiert. So ist es nicht verwunderlich, dass sich alle größeren Gemeinschaftsformen nach und nach aufgelöst haben und ein anonymer Staat einen Teil von deren Funktionen übernommen hat. Die Gemeinschaft ist in kleinere Einheiten, die Familien zerfallen, die in kleinerem Rahmen die benötigte emotionale Geborgenheit bieten, aber auch mehr Raum für neurotische Entwicklungen lassen. Mit der stark beschleunigten Entwicklung der letzten hundert Jahre und den vielfältigen technologischen Neuerungen ist die bislang schleichende Individualisierung stark beschleunigt worden. Der Familienverband verliert seitdem immer stärker an Wertschätzung, die Familienstrukturen lösen sich auf und es gibt immer mehr Singles, die nur noch per Geburt und aus Gewohnheit irgendwie Teil einer Familie sind.
Man könnte das auch so formulieren, dass sich archaische und rudimentär tierische, atavistische, fast biologische Gesellschaftsformen in Auflösung befinden. Und während diese Entwicklung weitergeht, setzt in geringem Umfang bereits die Gegenbewegung ein. Die Singles, die sich langsam aus den überkommenen Familienstrukturen lösen, möchten natürlich nicht auf die emotionale Geborgenheit verzichten und schaffen sich neue Strukturen. Statt der biologischen Bindung suchen sie, vereinfacht gesagt, eine Interessenbindung, statt Familienbande knüpfen sie ein Freundschaftsnetzwerk, in dem sie weniger Verpflichtungen und mehr Freiräume haben, die biologische Zwangsgemeinschaft macht einer inneren Gemeinschaftsform Platz, die auf Freiwilligkeit, übereinstimmenden Interessen und innerer Verwandtschaft beruht.
Diese neue Gemeinschaftsform befindet sich noch in den allerersten zarten Anfängen. Der Versuch der 68er Generation war zwar von Begeisterung erfüllt, aber er war letztlich vor allem ein erstes Spiel mit den Möglichkeiten, ein blindes Herantasten an eine unbestimmte Schauung zukünftiger Seinsweisen, ein ungestümer Versuch, die Grenzen der Beschränktheit niederzureißen. Gescheitert sind sie vielleicht daran, dass die Vision nicht weit und authentisch genug war und das Bewusstsein zwar nach Neuem strebte, aber noch gänzlich unvorbereitet war und eigentlich noch immer tief in der verhassten Spießerwelt wurzelte. Und doch haben sie einen Anstoß gegeben und einem Traum zu größerem Leben verholfen, der sich undeutlich und verschwommen in immer mehr Menschen abzeichnet.
Das, was sich jetzt herauszubilden beginnt, ist immer noch geprägt von alten Verhaltensmustern und dem Streben nach Zweierbeziehungen und von Eifersucht. Aber die Macht der alten Formationen fängt langsam an zu bröckeln. Alte Werte werden nicht mehr ganz so selbstverständlich übernommen und in vielen Herzen gibt es eine verborgene, unbenennbare Sehnsucht nach etwas Besserem, Hellerem, Weiterem. Parallel zur Entstehung von Öko-Habitaten und Lichtinseln werden sich neue Beziehungsmuster bilden. Die eifersuchtsgeprägte Zweierbeziehung wird ihre Besitzansprüche und Verlustängste in einem zusammenwachsenden Geflecht von Freunden langsam verlieren. Zweierbeziehungen werden deswegen zwar nicht aufhören zu existieren, denn es wird immer Seelen geben, die füreinander geschaffen sind, aber es werden offenere und nicht mehr so ausschließliche Beziehungen sein, die Raum für vielfältige, den Menschen entsprechende Ausdrucksweisen bieten. Die Scheu vor der Erfahrung der Nähe wird verschwinden und es werden sich neue Familien bilden, die nicht auf dem Muster „ein Mann, eine Frau“ oder „ein Mann, viele Frauen“ basieren, sondern meist auf „mehrere Männer, mehrere Frauen, viele gemeinsame Kinder“. Die immer noch existente Stigmatisierung der Homosexualität und das damit zusammenhängende Schubladendenken wird einem neuen Bewusstsein von Männlichkeit und Weiblichkeit Platz machen und zu einer neuen Beziehungsfähigkeit der Männer und der Frauen untereinander führen, welche die neuen Großfamilien überhaupt erst lebensfähig macht und ein wirkliches Gemeinschaftswesen begründet, das nicht auf einer Ansammlung von Paarbeziehungen aufgebaut ist. Dieses unausgesprochene und „niemanden betreffende“ Problem der Homosexualität ist etwas, das immer irgendwo gegenwärtig ist und unerkannt großen Einfluss auf das menschliche Miteinander hat. Ein unverkrampfter Blick auf die eigene Sexualität und die Sexualität anderer lässt sich nicht per Dekret oder eigenem Entschluss verwirklichen. Dazu sind Generationen von Bewusstwerdung und zunehmend selbstverständlicher Präsenz und Diversität nötig. Eine neue Gemeinschaft muss auf einem allumfassenden Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen, das Vielfalt und individuelle Entwicklung nicht nur toleriert, sondern versteht und explizit fördert, denn Leben drückt sich durch Vielfalt aus, nicht durch tote Monokultur.
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