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Freitag nachmittag. Das letzte Seminar war eben zu Ende gegangen, und die Studenten verließen den Hörsaal. Edward Lansing stand hinter dem Pult, sammelte seine Texte und Notizen ein und verstaute sie in der Aktentasche. Auf ihn wartete ein freies Wochenende, daran dachte er mit Wohlbehagen. Keine Unterrichtsvorbereitungen, keine kommunalpolitischen Verpflichtungen... noch hatte er nicht entschieden, was er mit den beiden Tagen anfangen wollte. Er könnte hinaus aufs Land fahren und die herbstliche Farbenpracht genießen. An diesem Wochenende würde sie sich in ihrer ganzen Schönheit entfalten. Er könnte Andy Spaulding anrufen, um mit ihm eine Wanderung zu planen. Alice Anderson könnte er fragen, ob sie mit ihm zu Abend essen wollte. Eventuell würde sich daraus etwas entwickeln. Er könnte aber auch gar nichts tun, sich in seinem Appartement verstecken, den Kamin anheizen, den Plattenspieler mit Mozart füttern und endlich all die Sachen lesen, die sich seit langem angesammelt hatten. Er klemmte die Aktentasche unter den Arm und ging durch die Tür. An der Korridorwand, ein paar Schritte vom Hörsaal entfernt, stand der Glücksspielautomat. Aus reiner Gewohnheit fuhr Lansing mit der Hand in die Hosentasche. Seine Finger betasteten die Münzen, die er dort fand. Am Spielautomaten blieb er stehen und schob ein Vierteldollarstück in den Schlitz. Dann drückte er den Hebel herunter. Die Maschine kicherte glucksend, ihre Walzen setzten sich in Bewegung. Ohne auf das Ergebnis zu warten, ging Lansing weiter. Es hatte keinen Sinn, bei der Maschine stehen zubleiben: niemand hatte je etwas gewonnen. Hin und wieder gingen Gerüchte von einem gewaltigen Jackpot um, aber Lansing war davon überzeugt, daß alle diese Geschichten von den Wohlfahrtsleuten in Umlauf gebracht wurden - aus Reklamezwecken.
Hinter ihm blieb die Maschine mit einem lauten Knacken stehen. Er drehte sich um und warf einen Blick auf die Walzen: eine Birne, eine Zitrone, eine Apfelsine. Die Maschine war im Stil der ersten Automaten gehalten. Damit wollte man sich die Nostalgiegefühle der Studenten zunutze machen. Also wieder einmal verloren! Aber das war nichts Ungewöhnliches. Er konnte sich nicht erinnern, jemals gewonnen zu haben. Es gab keine Gewinner. Vielleicht spielten die Leute nur aus einer Art patriotischem Pflichtgefühl an den Automaten. Lansing war sich in dieser Frage nicht sicher, aber es war durchaus möglich, daß die Spieler auf eine unbewußte Weise ihre Bürgerpflicht erfüllen wollten. Denn sie finanzierten damit den staatlichen Wohlfahrtsfonds. Das hatte dazu geführt, daß der schmerzhafte Druck der Einkommensteuer ein wenig gelockert werden konnte. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet erschien Lansing diese Regelung nicht ganz einwandfrei. Doch wie dem auch sein mochte, ob er das System schätzte oder nicht - es funktionierte. Er konnte es sich durchaus leisten, gelegentlich einen Vierteldollar für die Armen zu opfern, wenn er auf diesem Weg Steuern sparte. Der Automat hatte sich ausgeschaltet, seine Lichter waren erloschen. Lansing stand allein auf dem Gang. Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Nun mußte er nur noch seine Tasche loswerden, dann stand dem freien Wochenende nichts mehr im Wege.
Als Lansing um die Ecke bog, sah er, daß jemand auf ihn wartete. Der junge Mann lehnte in einer provozierend schlaffen Haltung an der Wand neben Lansings Bürotür - die unvermeidliche Pose eines wartenden Studenten. Lansing ging an dem Burschen vorüber und zog seine Schlüssel aus der Tasche.
»Warten Sie auf mich?« fragte er.
»Thomas Jackson«, stellte sich der Student vor. »Sie haben mir einen Zettel ins Fach gelegt.«
»Stimmt, Mr. Jackson, jetzt fällt es mir ein«, erwiderte Lansing. Er öffnete die Tür und ließ den jungen Mann ein. Dann trat er hinter seinen Schreibtisch und knipste das Tischlämpchen an. »Bitte, nehmen Sie Platz!« Dabei zeigte er auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.
»Vielen Dank, Sir«, entgegnete der Student. Lansing ging um den Tisch herum und ließ sich in seinem Sessel nieder. Dann blätterte er in einem Papierstapel zu seiner Linken, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Ein kurzer Blick auf Jackson sagte ihm, daß der Junge nervös war.
Lansing schaute aus dem Fenster. Unter ihm erstreckten sich die Parkanlagen der Universität. Es war ein typischer Herbstnachmittag in Neuengland. Eine milde Sonne verwandelte das Laub der alten Birken in warmes Gold.
Der Professor blätterte langsam in einem schmalen Hefter. Er gab sich den Anschein, als würde er die Seiten lesen. »Mr. Jackson«, sagte er, »ich würde gern mit Ihnen über Ihr Referat sprechen. Es ist in mancher Hinsicht eine hochinteressante Arbeit.«
Der Student schluckte, bevor er antwortete: »Ich freue mich, daß es Ihnen gefällt.«
»Ich habe selten eine bessere Literaturkritik gelesen«, begann Lansing. »Sie müssen sehr viel Zeit und Nachdenken darauf verwendet haben. Das ist ganz eindeutig. Für diese Szene im Hamlet haben Sie ein ungewöhnliches Gespür entwickelt, und Ihre Ableitungen sind brillant. Eine Sache allerdings bereitet mir Kopfzerbrechen: die Quellen, die Sie zitieren.« Er legte den Hefter auf den Tisch zurück und sah dem Studenten ins Gesicht. Dieser versuchte, den Blick zu erwidern, aber dann wurden seine Augen feucht, und er wandte den Kopf ab.
»Ich wüßte zum Beispiel gern, wer dieser Crawford ist«, erklärte Lansing. »Oder Wright. Oder Forbes. Es dürfte sich doch um anerkannte Shakespeare-Forscher handeln, aber ich habe noch nie von ihnen gehört.« Jackson gab keine Antwort.
»Was mich beschäftigt«, fuhr Lansing fort, »ist die Frage, warum Sie die Namen überhaupt ins Spiel gebracht haben. Ihr Referat käme gut ohne sie aus. Hätten Sie sie nicht erwähnt, hätte ich -obwohl der bisherige Verlauf Ihres Studiums dagegenspricht -angenommen, daß Sie sich endlich auf den Hosenboden gesetzt und zu arbeiten begonnen haben. Nach meinen Unterlagen über Sie wäre das zwar eine unwahrscheinliche Erklärung, aber ich hätte im Zweifel für Sie entschieden. Wenn das hier ein Streich sein soll, dann finde ich ihn nicht sehr spaßig. Vielleicht können Sie mir die Angelegenheit erläutern. Ich bin gern bereit, Sie anzuhören.« Der Student antwortete mit überraschender Bitterkeit in der Stimme: »Das war der verdammte Automat!« schimpfte er. »Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Was für ein Automat?«
»Ich brauchte unbedingt eine gute Note, verstehen Sie?« stotterte Jackson. »Wenn das Referat kein Erfolg würde, hätte ich das ganze Seminar abschreiben können, das war mir klar. Das aber durfte nicht passieren. Ich habe mir ernstlich Mühe mit dem Thema gegeben, aber ich habe es nicht in den Griff bekommen. Also bin ich zu dem Automaten gegangen und.« »Ich frage Sie noch einmal«, unterbrach ihn Lansing, »was hat der Automat mit der Angelegenheit zu tun?« »Es ist ein Glücksspielautomat«, erwiderte Jackson. »Oder vielmehr: Es sieht wie einer aus, aber ich glaube, es ist etwas anderes. Nur wenige Leute wissen von der Maschine. Es wäre auch nicht gut, wenn es allgemein publik würde.« Er warf Lansing einen bittenden Blick zu, und Lansing fragte: »Wenn dieser Automat ein Geheimnis bleiben soll, warum erzählen Sie mir dann von ihm? Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich doch nicht alles ausplaudern. Lieber würde ich es mit einem Bluff versuchen. Sie vermasseln ja den anderen die Tour.«
Natürlich glaubte Lansing nicht an die Geschichte von dem Glücksspielautomaten, nicht einen Augenblick lang hatte er daran geglaubt. Er versuchte, seinen Gesprächspartner unter Druck zu setzen, um auf diese Weise der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
»Nun, Sir, ich will versuchen, Ihnen zu erklären, wie ich die Sache sehe«, sagte Jackson. »Sie könnten denken, ich will mir einen Jux machen, oder ich hätte jemanden dafür bezahlt, daß er die Arbeit für mich schreibt. Sie könnten viele Dinge annehmen. Was Sie auch denken mögen, Sie werden mich durchfallen lassen, und das kann ich mir nicht leisten. Ich bin wirklich am Ende. Und da habe ich mir gesagt, wenn ich es mit der Wahrheit probiere. Es ist ein Versuch, verstehen Sie? Ich hatte einfach gehofft, Sie würden mich nicht durchfallen lassen, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage.«
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