Die Sexualität ist eine Urgewalt, die unser Leben durchdringt, wie kaum etwas anderes, und trotz der sexuellen Revolution der sechziger und siebziger Jahre und der folgenden Liberalisierung ist sie immer noch von Tabus umgeben wie kaum etwas anderes. Sie hat das Potenzial, unser Sein zu bereichern, aber das Schweigen, das sie umgibt, ist Zeugnis unserer Sprachlosigkeit und unserer Scham und zeigt, wie innerlich gespalten wir in Bezug auf unsere Sexualität sind und wie wenig dieser wichtige Bereich in unser Leben integriert ist. Privat lieben wir den Sex, doch sind wir nicht in der Lage, mit unseren Freunden oder Partnern entspannt über Selbstbefriedigung, Verhütung, sexuelles Empfinden, Selbstwahrnehmung, bi- und homosexuelle Gefühle, Unfruchtbarkeit, Versagensängste usw. zu kommunizieren; Religion, gesellschaftliches Brauchtum, Erziehung und Gewohnheit hindern uns recht effektiv daran. Auch wenn man die Sexualität in unserem Lebensausdruck nicht direkt wahrnehmen kann, so ist sie doch in alle Bereiche unseres Lebens verwoben, und ihre Entfaltung, Missachtung oder Unterdrückung hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung, unser Selbstwertgefühl, auf unsere Beziehungen, unser gesellschaftliches Miteinander, auf unsere Offenheit und sogar direkt und indirekt auf die Politik. Dieses Buch bietet eine Hilfestellung, um die Sexualität neu wahrnehmen und sich auch innerlich sexuell befreien zu können und zu einem erfüllten, zukunftsfähigen Menschen zu werden.
Sexualität –
Eine Zukunft für die Zukunft
Blog zur Buchreihe
„Eine Zukunft für die Zukunft“:
oeko-habitate.de
2013
ISBN 978-3-86710-105-9
ISBN (epub) 978-3-86710-106-6
ISBN (mobi) 978-3-86710-107-3
ISBN (pdf) 978-3-86710-108-0
© Mirapuri-Verlag, Gauting
Gesamtherstellung: Miraprint Offsetdruck, Gauting
Illustrationen, Cover: Anand Buchwald
Lyrics S. 205: Michel Montecrossa, Forever Love, Mirapuri-Verlag, 2009
1. Menschliche Sexualität und Evolution 1. Kapitel
2. Kunst 2. Kapitel
a) Nacktheit
b) Pornographie
c) Sexualität
3. Wissenschaft
a) Die sexuellen Kontinua
b) Die sexuelle Intensität
c) Die geschlechtliche Identität
d) Die sexuelle Orientierung
4. Philosophie
a) Das Naturrecht
b) Homosexualität und gesellschaftliches Leben
c) Sexualphilosophie
d) Homophobie
e) Bisexualität und Biphobie
5. Religion
6. Spiritualität
7. Bewusstseinsforschung
8. Eines Tages ... (Erzählung)
Anhang
1. Natur, Evolution und Homosexualität
2. Sexualität und spirituelle Entwicklung
Verlagshinweis
1. Kapitel
Menschliche Sexualität und die Evolution
Wenn man einen Menschen fragt, von welchen Faktoren unsere Zukunft abhängt, dann bekommt man wohl vor allem Wirtschaft und Politik genannt. Die Progressiveren werden vielleicht vom Erhalt der Umwelt sprechen, von der Überwindung sozialer Krisen, von der Eindämmung des Klimawandels und der Überbevölkerung, vom Ressourcenmanagement, von der Fähigkeit zur Zusammenarbeit, von der Schaffung der Vereinigten Staaten des Planeten Erde und vielleicht noch von den wichtigsten Faktoren, dem Wachstum des Bewusstseins und der Liebe. Auf den Gedanken der Enttabuisierung und Neubewertung der Sexualität würde kaum jemand kommen, und manche würden diesen Punkt noch nicht einmal verstehen, denn schließlich scheint es in den Zeiten freier Liebe, hemmungsloser Pornografie und offen gelebter Homo-, Bi- und Transsexualität eigentlich keine sexuellen Tabus mehr zu geben. Doch bereits diese Sicht ist ein Kind der Tabuisierung der Sexualität, denn für jemand, der mit diesen Tabus aufgewachsen ist und sie vielleicht sogar verinnerlicht hat, ist der jetzige Zustand bereits mehr als der Gipfel sexueller Freizügigkeit und die eigene Haltung gequälter Duldung der Gipfel großzügiger Toleranz, und konservative bis fundamentalistische Kräfte würden immer noch lieber heute als morgen die alte Unterdrückungsmaschinerie wieder anwerfen, die Verhütung und Abtreibung verbieten, Sex nur in der Ehe erlauben und jede Abweichung von der Norm bestrafen.
Doch ist der derzeitige und durchaus noch nicht gefestigte Stand der Dinge allenfalls einer der ersten vorbereitenden Schritte zu einer wirklichen sexuellen Befreiung, vor allem in den Industrieländern. Unser Verhalten und unsere Einstellung mögen vielleicht, wenn man nicht genau hinsieht, den Eindruck von sexueller Freiheit erwecken, sind aber geprägt vom Verbergen und vom Gefühl, den gesellschaftlichen Standards nicht wirklich zu entsprechen. Eine gelungene Enttabuisierung erkennt man daran, dass kein Bewusstsein von Tabus mehr besteht, dass Sexualität so selbstverständlich geworden ist, wie etwa die Nahrungsaufnahme, und dass man darüber mit der gleichen Selbstverständlichkeit reden kann, dass die Frage nach dem Geschlecht des Partners keine Wertung mehr beinhaltet, dass man sich nicht mehr schmerzvoll, sondern freudig und unvoreingenommen auf die Entdeckungsreise in die Welt der eigenen Sexualität begibt, weil alles möglich, alles normal und alles in Ordnung ist, dass man angstfrei spielen und experimentieren kann, und dass man Beziehungen individuell und frei gestalten kann, was Menge, Art und Intensität der Zuneigung und ihres Ausdrucks und auch die Zahl der Partner betrifft. Die Uniformität in den Erwartungen an Beziehungen und in ihrem Ausdruck schwindet und macht einer ungezwungenen Vielfalt Platz, in der alles möglich ist. Und man erkennt eine enttabuisierte Gesellschaft auch daran, dass man für alle möglichen Ergebnisse, für alle Charakterkonstellationen, die auch dann nie in Stein gemeißelt sind, sondern nur Momentaufnahmen darstellen, ein Vorbild im realen Leben wie auch in der Welt der Medien findet. Doch davon sind wir noch weit entfernt, und wir müssen uns deswegen noch mit allen möglichen Einschränkungen, Sonderbehandlungen, Repressalien und, bei Abweichungen von der „Norm“, sogar mit der Angst um unser Leben herumschlagen – kurz gesagt: Wir sind nicht frei.
Aber hat diese Unfreiheit deshalb auch gleich Auswirkungen auf unsere globale Zukunft? Schließlich betrifft sie ja nur unser Privatleben und nicht die große Weltpolitik. Doch wie aus der Chaos-Theorie bekannt ist, können kleine Ursachen sehr große Auswirkungen haben; und die Sexualität ist keine kleine Ursache, sie ist eine Urgewalt. Die Kriege und Streitigkeiten, die direkt oder indirekt in der Sexualität, in Beziehungs- und Partnerschaftsproblemen und in Anspruchs- und Wunschdenken ihren Ursprung haben, beschränken sich nicht auf griechische Göttersagen oder auf den Fall von Troja – ihre Anzahl ist Legion.
Die Sexualität beherrscht unser Denken, unsere Empfindungswelt und vor allem unser Unterbewusstes in nicht zu kleinem, wenn auch individuell deutlich unterschiedlichem Ausmaß. Ob wir guten Sex hatten, schlechten Sex, gar keinen Sex, ob er uns unerfüllt zurücklässt oder das Gefühl hervorruft, die Welt umarmen zu wollen, ob wir manche Wünsche nicht zum Ausdruck bringen können oder uns beim Sex innerlich verbiegen müssen, ob Sex Ausdruck von Liebe, Freundschaft, Lust, Verlangen, Machtstreben, Unterwerfung, Manipulation, Gefälligkeit, Potenzgehabe, Pflichterfüllung, Wettstreit, Selbstbehauptung, Selbsttäuschung, Ablenkung oder sonst etwas ist, hat Auswirkungen auf unser tägliches Wohlbefinden, auf unser Selbstwertgefühl, auf die Wahrnehmung anderer Menschen, auf unsere Konzentration und Einsatzfähigkeit und -bereitschaft, auf den Grad unserer Frustration oder Zufriedenheit u.v.m. und damit auch auf die Interaktion mit unserer Umwelt.
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