»Bona Dea«, murmelte er, »ich hätte nicht geglaubt, dass so etwas in dir steckt, Junge.«
Drei Tage später stand ich in der Po-Ebene und blickte zu dem gigantischen Barbarenheer hinüber, das dem weitaus kleineren römischen Heer gegenüber Aufstellung genommen hatte. Vom Fuße der Alpen, die durch den Staub fast verdeckt waren, breitete sich ein Menschenmeer auf der Ebene aus.
Die hellhäutigen Barbaren warteten ungeduldig darauf, dass der Kampf losging. Um die Spielzeugsoldaten, wie sie uns nannten, zu massakrieren und zu verstümmeln. Ihre Frontlinie verlief ungleichmäßig und schien sich dem Horizont entlang zu erstrecken. Ihre Gesichter waren mit kräftigen Farben bemalt. Einige von ihnen waren nackt. Ab und zu brach einer von ihnen aus der Linie hervor, lief nach vorne und spreizte die Hinterbacken oder pisste in unsere Richtung. Ihre Schilde bildeten in der Morgensonne eine endlose Ansammlung weißer Scheiben. Ihre Schwerter waren fast so groß wie sie selbst.
Dieser Anblick erfüllte mich mit Angst. Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. Ich sah in das faltige, vernarbte Gesicht des Generals.
»Was machst du hier? Wer soll sich um all die Verwundeten kümmern, wenn du zu Schaden kommst?«
Widerstrebend ließ ich mich von Marius nach hinten schieben.
»Hör zu, Junge«, flüsterte er. »Ich verstehe dich. Du willst dich an den Mördern deines Vaters rächen. Du willst sie bluten sehen. Doch lass es mit dem getöteten Teutonen genug sein.«
Es lag außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass der besiegte Barbarenhäuptling eine Bedrohung hätte darstellen können. Durch Marius’ Blick schien ich zu wachsen, seine Sorgen ließen mich vor Stolz erröten. Er verstand meine Rachegelüste. Was er indes nicht begriff, war meine Scham darüber, einem anderen Menschen sein Leben genommen zu haben, und dass ich den Eid gebrochen hatte, den ich vor vielen Jahren einem Mann gegeben hatte, der in jederlei Hinsicht das Gegenteil von ihm gewesen war.
Gefangen in der Leere zwischen diesen beiden entgegengesetzten Gefühlen, verharrte ich einen Augenblick lang, bevor ich zu laufen anfing.
Sie trugen mich zwischen sich, als ich langsam wieder zu mir kam. Der eine hatte meine Fußknöchel umfasst, der andere hatte mich unter den Armen gepackt. Sie waren groß, muskulös und stanken nach Knoblauch. Der Hintere hielt meine Beine so lange fest, bis der Vordere mich wieder beruhigt hatte, was so kurz wie das Niesen einer Katze dauerte. Dann verhielt ich mich ruhig.
Sie legten mich auf den Boden. Der Erste zog einen Schlüssel hervor und schloss eine Tür auf. Als sich der andere bückte, um mich ins Innere zu zerren, stieß ich ihm mein Knie in seinen Schritt. Er fiel um wie eine Kuh, der man auf die Stirn geschlagen hatte, ich schnappte die Eisenstange von seinem Gürtel und rollte mich über den Boden. Als der Erste über seinen Kameraden stieg, zielte ich auf seine Kniescheibe. Es knirschte, als ich zuschlug, und sein Aufschrei hallte zwischen den feuchten Wänden wider. Ich kam auf die Beine und lief los. Selbst diejenigen, die ihr Leben lang in Rom gelebt haben, können sich in seinem Labyrinth aus Gassen verirren. Das passierte mir nun auch. Ich lief eine schmale Gasse entlang, von der ich wusste, dass sie zum Clivus Suburana führte – eine der wenigen mit einem Namen bezeichneten Straßen in Subura –, um dann festzustellen, dass sie sich teilte. Den Weg, den ich wählte, endete in einer Sackgasse. Die Mauer am Ende war jedoch niedrig genug, sodass ich über sie hinüberklettern konnte.
In dem Peristylgarten duftete es nach Rosen und Kräutern. Ich bewegte mich vorsichtig durch die Schatten der Blätter auf ein dunkles Rechteck in der Hausfassade zu, die Hintertür. Ich schlich auf Zehenspitzen an den Schlafzimmern vorbei, aus denen ich ruhiges Atmen hörte, und erhöhte mein Tempo. Da stieß ich direkt gegen einen Tisch. Becher und Teller fielen derart laut scheppernd auf den Fußboden, als marschierte eine Legion vorbei.
Der Hausherr torkelte schlaftrunken ins Atrium hinaus und streckte mir ein Schwert entgegen.
»Ein Dieb! Ein Dieb!«, rief er.
Sein Blick richtete sich auf meine Hand, mit der ich immer noch die Eisenstange umklammerte. Gemäß dem Zwölftafelgesetz durfte ein Dieb, der mit einer Waffe in einem fremden Haus erwischt wurde, umgehend erschlagen werden. Er machte einen gezielten Schritt nach vorne, fiel aber ins Becken des Atriums. Wasser spritzte auf meine Schuhe. Als ich aufblickte, lag er auf dem Mosaikboden des flachen Beckens und starrte mich an, während ihm Blut an den Mundwinkeln herablief.
Es war derjenige Senator, der sich vor einigen Tagen darüber beklagt hatte, dass er fünf Denare für die Behandlung des verstauchten Arms seiner Sklavin bezahlen sollte.
Sein Kopf sank langsam auf die Brust und fiel schließlich zur Seite wie ein Sack auf einem Eselsrücken. Er war in sein eigenes Schwert gefallen, das nun aus seinem Brustkorb herausragte.
Mir kam es so vor, als geschähe das alles bei Tageslicht. In der Tür stand eine Frau mit einer Öllampe in der Hand. Das füllige, gekräuselte Haar rahmte ihr rundes Gesicht mit seinen mandelförmigen Augen ein.
»Arzt«, stieß sie hervor.
Ich schob den Riegel zur Seite, riss die Tür zur Straße auf und lief ein paar zufälligen Nachtschwärmern in die Arme.
»Halt! Stehengeblieben!«, riefen sie, ohne größere Anstalten zu machen, mich zu verfolgen.
In Paniksituationen überlässt der Geist die Kontrolle des Körpers den Beinen. In der Ilias beschreibt der große Dichter Homer, wie Paris, der im Zweikampf gegen Menelaos zu unterliegen droht, von Aphrodite gerettet wird, indem sie ihn mit dichtem Nebel umhüllt. Die eher bodenständigen Römer nennen dieses Phänomen die Waffe des Angsthasen. Das Resultat ist dasselbe. Erst wenn man durchs Rennen erschöpft ist, wird man sich bewusst, wo man gelandet ist.
Ich bemerkte, dass das Gebäude, an das ich mich anlehnte, die Schenke an der Ecke zur Straße der Sandalenmacher war. In einem mäßig raschen Tempo lief ich den schmalen Gang mit den hölzernen Fensterläden der geschlossenen Geschäfte entlang. Auf der untersten Stufe einer Treppe entdeckte ich die Lederhülle mit Marius’ Dokument. Meine Entführer hatten sie übersehen, als sie mich fortgeschleppt hatten.
Ich warf einen Blick zurück in die Straße. Zwei Männer kamen mir entgegen. Einer von ihnen humpelte deutlich.
»Da ist er!«, riefen sie im Chor.
Zu spät erkannte ich, wie töricht es war, die Treppe hinaufzulaufen, doch ich eilte weiter nach oben, weg von dem Getöse unter mir, in der Hoffnung, meine Dachkammer erreichen und die Leiter hinter mir hochziehen zu können. Im sechsten Stockwerk stolperte ich über die oberste Stufe, stürzte gegen eine Tür und fiel in jenem Zimmer zu Boden, das Aelia mit ihrem Sohn und Sarpedon teilte.
»Was ist los?«, wollte sie wissen.
Ich schloss die Tür und gebot ihr, zu schweigen.
Der Hinkende blieb auf dem Absatz stehen. Sein Kamerad stieg die Leiter hinauf. Dort würden sie ein leeres Zimmer vorfinden und sich sofort ausrechnen können, wo ich mich aufhielt. Zumindest glaubte ich das.
Zu meiner Verwunderung erklangen laute Rufe von oben herunter, Staub und Putz rieselten durch die Ritzen der Bodenbretter, zwei Personen liefen hintereinander her. Der Lärm kam vom anderen Ende des Raums, und dann waren die Stimmen draußen zu hören.
Auf die gegenüberliegende Hauswand warf der Mondschein die Schatten von zwei Gestalten, die über das Dach liefen. Ich lehnte mich hinaus und konnte gerade noch sehen, wie der Vordere sein Gleichgewicht verlor und zur Kante hinabpurzelte. Ein paar Beine glitten über die Dachtraufe. Unendlich langsam, wie mir schien, folgte schließlich der Rest des Mannes. Er stieß einen heiseren Schrei aus und stürzte dann tief unten auf das Pflaster.
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