Im Gegensatz zu den Flüchtlingslagern in anderen Ländern ging es uns in Jordanien gut. Aber mir war das nicht gut genug und ich wusste, dass es keine Chance gab, jemals ein besseres Leben zu führen. Aber dann bekam ich eines Tages doch eine Chance. Ich wurde von der Schule abgeholt. Zwei Männer in Uniform setzten mich hinten in einen Jeep und fuhren mit mir davon. Sie brachten mich in ein Gebäude aus nacktem Beton. Ich wurde in einen kahlen Raum geführt. Dort standen ein kleiner Tisch und zwei unbequeme Holzstühle. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Ich wurde eine Weile allein in dem Raum gelassen. Hin und wieder hörte ich Schreie von Männern. Die kamen von irgendwo aus dem Gebäude. Schreie der Angst. Schreie der Wut. Und andere Schreie. Schreie von Soldaten. Sie schrien Befehle durch die nackten Betongänge. Ich schrie nicht. Ich hatte auch keine Angst. Ich war ein vierzehnjähriges Mädchen und ahnte, dass das Leben mir heute eine Möglichkeit bot, die ich nutzen musste, weil ich sonst nie wieder eine bekäme. Irgendwann öffnete sich die Tür, und ein Mann in Uniform setzte sich zu mir an den Tisch. Der Mann nannte seinen Namen nicht. Später erfuhr ich, dass er Ibrahim hieß. Er sah mich eine Weile an, dann fragte er, ob ich Kalil kennen würde. Kalil Abdelkader. Er sah mich streng an. Ich erwiderte seinen Blick. Das verunsicherte ihn. Er saß vor einem vierzehnjährigen Mädchen in einem Verhörraum, und das Mädchen sah ihm furchtlos direkt in die Augen. Natürlich kannte ich Kalil. Er wohnte in meiner unmittelbaren Umgebung. Kalil war Anfang zwanzig, ein Heißsporn, ein Angeber, ein Dummkopf. Und er hatte ein Auge auf meine größere Schwester geworfen. Auf Suleika.
»Ich kenne ihn. Er ist ein schlechter Mensch.«
»Da hast du recht«, antwortete der Soldat zufrieden.
»Ich glaube, er hat etwas vor«, sagte ich mit kindlicher Unschuld.
»Was glaubst du denn, was er vorhat?« Ich hatte nun seine volle Aufmerksamkeit und überlegte noch einmal, ob ich es wagen sollte. Vielleicht würde er mich nur auslachen und dann so lange verprügeln, bis ich ihm alles gesagt hatte, was ich über Kalil wusste. Aber das Risiko ging ich ein. Diese Chance würde nie wieder kommen. »Ich kann alles herausfinden, was Sie wissen wollen. Aber nur unter einer Bedingung.«
Der Mann sah mich überrascht an. Ich befürchtete schon, dass er mir eine schallende Ohrfeige verpassen würde. Aber nachdem er kurz gestutzt hatte, formten sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. »So, so. du hast eine Bedingung. Welche denn?«
»Ich will eine andere Schule besuchen.«
Der Mann traute seinen Ohren nicht. »Du willst eine andere Schule besuchen?«
»Ich will die beste Schule besuchen, die es in Amman gibt und dort meinen Abschluss machen.«
Der Mann blieb wort- und regungslos vor mir sitzen und musterte mich. Seine Kiefer mahlten aufeinander. Plötzlich stand er auf. »Du wartest hier«, sagte er nur. Dann verließ er den Raum und verschloss die Tür hinter sich. Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen und rührte mich nicht. Ich blickte starr gegen die kahle Betonwand. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß und wartete, aber es mussten mehrere Stunden gewesen sein.
Samira lächelte wehmütig, als sie in ihren Erinnerungen schwelgte. Nun musste sie wieder mutig sein. Nayla musste ihr etwas hinterlassen haben. Etwas, auf das es ihr Mörder abgesehen hatte. Sie kannte Nayla. Sie wird es an einem sicheren Ort verwahrt haben. Samira musste dieses Versteck jetzt finden.
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