»Scheiße«, rief Lena aus und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Wie sollte sie sich nur verhalten? Kooperativ mit Till Krüger und dem LKA zusammenarbeiten, so wie sie es mit ihm abgesprochen hatte? Oder sollte sie erst mal ihr eigenes Ding durchziehen? Ein Blick auf die Uhr ließ sie zusammenzucken. Sie hatte Gerold Haferstein für zehn Uhr ins Präsidium bestellt. Sie musste sich beeilen.
Haferstein stand bereits in der Eingangshalle des Präsidiums. Als er Lena durch den Haupteingang kommen sah, warf er einen empörten Blick auf die Uhr. Lena war zehn Minuten zu spät.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich war noch bei einer Zeugenbefragung. Kommen Sie mit, wir gehen in mein Büro.«
Haferstein erklärte Lena auf dem Weg durch die Flure im Präsidium, dass seine Zeit begrenzt sei.
Im Büro kam Lena auch gleich zur Sache, nachdem sie die Personalien zur Zeugenbefragung aufgenommen hatte.
»Hatte jemand Zugriff auf Ihre Schlüsselkarte zum Hotelzimmer im Jumeirah?«
»Nein. Die trug ich den ganzen Tag bei mir, und sie befand sich auch noch in meiner Brieftasche, als ich nachmittags wieder im Hotel eintraf.«
»Wie viele Leute wissen von Ihrem Aufenthalt in dem Hotelzimmer?«
»Jedenfalls niemand, der eine tote Frau dort zurücklassen würde.«
»Wie kam sie dann wohl dorthin?«
»Das herauszufinden sollte eigentlich Ihre Aufgabe sein.«
»Ich bin gerade dabei, das herauszufinden, Herr Haferstein. Die tote Frau haben Sie noch nie zuvor gesehen, ist das richtig?«
»Stimmt. Ich habe sie noch nie gesehen. Wer ist sie?«
»Haben Sie jemals die Dienste von First Class Escort van Bergen in Anspruch genommen?«
Haferstein sah Lena konsterniert an. »Von wem?«
Lena merkte Haferstein an, dass er genau wusste, wovon sie redete. »Die tote Frau hieß Nayla. Sie arbeitete für einen Escort-Service. Klingelt da was bei Ihnen?«
Haferstein hatte schon tief Luft geholt, um diese Frage vehement zu verneinen. Doch dann besann er sich eines Besseren. Er war interessiert daran, die Zusammenhänge zu begreifen. Und das ging nur, wenn er in dieser Sache nicht blockte. Außerdem glaubte er, dass diese Kommissarin sowieso schon über seinen Kontakt zu dem Service Bescheid wusste. »Na gut, ist ja auch nichts Verwerfliches dabei. Ja, ich habe die Dienste von dem Service in Anspruch genommen. Ich habe dort mehrmals eine Begleitung gebucht. Es war aber immer dieselbe Frau, und das war nicht die Tote.«
Lena sah Haferstein nachdenklich an. Was hatte es nur mit diesem Escort-Service auf sich? Sie musste unbedingt die richterliche Anordnung zur Herausgabe der Kundendaten bei Justine van Bergen beantragen. »Samira?«, erkundigte Lena sich vorsichtig.
»Samira?« Haferstein schien nicht zu verstehen.
»Samira, war das der Name der Frau, die Sie als Begleitung gebucht haben?«
»Nein, sie heißt nicht Samira. Ihr Name ist Sarah. Es gab nie Probleme. Wir hatten immer eine gute Zeit zusammen. Was soll das alles?«
»Wie sind Sie auf den Service aufmerksam geworden?«
»Durch eine Empfehlung von einem Geschäftspartner.«
»Bei unserer Unterredung gestern Nachmittag im Hotel haben Sie den Verdacht geäußert, dass Ihnen jemand etwas anhängen will. Wie haben Sie das gemeint?«
»Ich hatte keine andere Erklärung dafür. Deswegen ist mir das so rausgerutscht. Aber mittlerweile denke ich, dass diese Sache mit mir persönlich gar nichts zu tun haben kann. Es ergibt einfach keinen Sinn.«
»Hat das was mit Ihren geschäftlichen Aktivitäten zu tun, dass Ihnen das so rausgerutscht ist?« Lena lächelte Haferstein provozierend an.
Haferstein war die Frage sichtlich unangenehm. Über seine Geschäfte wollte er augenscheinlich nicht mit der Kommissarin sprechen. »Nein, mir kam das nur so in den Sinn. Auf geschäftlicher Ebene habe ich natürlich Feinde und Gegner. Aber das bezieht sich ausschließlich auf das Geschäftliche. Da wird zwar mit harten Bandagen gekämpft, aber Vergewaltigung, Mord und Totschlag gehört nicht zum Repertoire.«
Lena dachte an die unzähligen Opfer, die unschuldig wegen Gerold Hafersteins Geschäften ihr Leben lassen mussten oder verstümmelt worden sind. An Kinder, die in Kriegsgebieten aufwuchsen, an Mütter, die um ihre Kinder trauerten, an Väter, die alles verloren hatten. Am liebsten hätte sie Haferstein wenigstens den Mord an Nayla angehängt. Aber sie beherrschte sich, behielt ihre Emotionen und ihre Abneigung gegen Haferstein im Griff und fuhr professionell mit der Befragung fort. Sie musste ihn in Widersprüche verwickeln, wenn sie ihn mit dem Mord in Verbindung bringen wollte.
»Also will Ihnen niemand etwas anhängen? Da sind Sie nun ganz sicher?«
»Wie gesagt, es war eine spontane und unüberlegte Reaktion. Ich war völlig überrascht und habe immer noch keine plausible Erklärung für die Geschichte. Denken Sie, dass es mit diesem Escort-Service zusammenhängt? Ehrlich gesagt, hatte ich vor, mich morgen wieder mit Sarah zu treffen. Aber wenn die tote Frau eine Kollegin von ihr war, weiß ich nicht, was ich von der Sache halten soll.«
Lena fasste es nicht. Jetzt fragte dieser Kerl sie tatsächlich noch um Rat, wie er sich verhalten sollte. Aber sie behielt weiterhin einen kühlen Kopf und ging fast mitfühlend auf ihn ein. »Da kann ich Ihnen nur raten, vorsichtig zu sein. Ich werde natürlich noch mit dieser Sarah sprechen müssen. Nicht nur mit ihr, sondern mit allen Damen, die für First Class Escort tätig sind.«
»Sie behandeln das aber bitte diskret. In meinem Business steht man nicht gerne im Rampenlicht.«
»Das ist mir klar. Wir werden der Presse keine Namen nennen, wenn Sie das beruhigt.«
»Das beruhigt mich in der Tat, Frau Leisig.«
»Jedenfalls im jetzigen Stadium der Ermittlungen noch nicht«, schob Lena hinterher und erntete einen misstrauischen Blick von Haferstein.
»Haben Sie sonst noch Fragen? Ich habe noch einige Termine wahrzunehmen.« Haferstein warf einen gehetzten Blick auf seine Armbanduhr, eine Rolex.
»Das wäre es fürs Erste. Aber halten Sie sich bitte weiterhin zur Verfügung.«
»Wie gesagt, ich habe auch noch Verpflichtungen im Ausland wahrzunehmen.«
»Wo werden Sie bis dahin wohnen? Haben Sie sich gestern noch eine neue Unterkunft besorgt?«
Haferstein klärte Lena über seinen Hotelwechsel auf und gab ihr auch seine Zimmernummer im Hilton.
»Sie verlassen das Land nicht ohne meine Genehmigung«, erklärte Lena lapidar, als Haferstein sich zum Gehen anschickte.
»Werde ich anderenfalls am Flughafen verhaftet?«
»Davon können Sie ausgehen.«
»Legen Sie sich nicht mit mir an, junge Frau«, zischte Haferstein und verließ sichtlich aufgeregt das Büro.
Lena war aufgefallen, wie schnell Hafersteins Launen sich veränderten. Während des kurzen Gesprächs zeigte er sich abwechselnd kooperativ, abweisend, aufbrausend und auch zutraulich. So einem Menschen traute sie einen Mord, wie er an Nayla verübt worden war, ohne weiteres zu.
*
Samira stand am Fenster. Sie hatte der Kommissarin nachdenklich hinterhergeschaut, als sie mit dem Auto davongefahren war. Warum hatte sie der Frau so viel preisgegeben? Sie hatte sich vorgenommen, sich vor der Polizei absolut ahnungslos zu geben, und wollte sich einfach nur tief erschüttert über den Tod von Nayla zeigen. Aber sie hatte auch nicht mit einer jungen Kommissarin wie Lena Leisig gerechnet. Die Frau war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Samira hatte eigentlich Besuch von zwei männlichen Beamten erwartet. So wie man es aus dem Fernsehen kannte. Von Männern, die auf eine überhebliche Art und Weise dumme Fragen stellen würden. Männer, für die sie nur eine Nutte war. Eine Luxusnutte vielleicht, aber eine Nutte. Noch dazu eine Muslima. Eine die statt Kopftuch Strapse trug. Weder in der einen noch in der anderen Kultur zuhause. Eine Aussätzige. Aber dann stand Lena Leisig vor der Tür. Eine junge Frau, nicht viel älter als sie selbst. Sie war neugierig und aufgeschlossen, zeigte keinerlei Vorurteile und war eine Kämpfernatur, die sich in der Welt der Männer durchgesetzt hatte. Samira sah eine Seelenverwandte in der jungen Kommissarin. Hatte sie ihr deshalb erzählt, dass sie Kontakt mit dem jordanischen Geheimdienst gehabt hatte? Davon hatte sie noch nie jemandem erzählt. Außer Nayla natürlich. Sie hatte der Kommissarin zwar nur ein kleines Häppchen hingeworfen, aber das war schon viel zu viel gewesen. Warum hatte sie das getan? Das erschien ihr nun unerklärlich. Samira dachte an die Zeit zurück, als sie vierzehn Jahre alt war und mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen in dem palästinensischen Flüchtlingslager lebte, das sich im Laufe der Zeit zu einer kleinen Stadt verwandelt hatte.
Читать дальше