»Ihre Vermutung ist naheliegend. Das kann ich nicht abstreiten. Ich kann das aber nicht bestätigen. Weder Nayla noch ich hatten bisher schlechte Erfahrungen gemacht. Ganz im Gegenteil. Wir sind auf einen exklusiven Kundenkreis spezialisiert. Die Männer, die uns buchen, behandeln uns wie Prinzessinnen. Und genau das wollen sie auch haben. Wir treffen uns nicht mit Männern, nur weil sie uns bezahlen können. Justine van Bergen vermittelt mich und meine Kolleginnen ausschließlich an integre Männer. Wir achten dabei auf einen qualitativ hochwertigen Service. Klasse statt Masse. Nayla hatte nur wenige Kunden, aber das waren Stammkunden. So ist es auch bei mir und den anderen Mädchen. Es ergibt einfach keinen Sinn. Nayla war ein wunderbarer Mensch.«
»Können Sie mir sagen, mit welchem Kunden Nayla sich zuletzt getroffen hat?«, fragte Lena jetzt direkt, was sie brennend interessierte.
»Tut mir leid, dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«
»Können Sie nicht, wollen Sie nicht oder dürfen Sie nicht?«
»Sie haben doch gestern mit Justine van Bergen über dieses Thema gesprochen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Wenn Sie eine Antwort auf diese Frage haben wollen, wenden Sie sich bitte an Justine.«
»Haben Sie Angst?«, fragte Lena intuitiv.
»Vor Justine?« Samira klang etwas belustigt. »Nein, wir haben ein Arrangement und das funktioniert vorzüglich. Das ist alles.«
»Haben Sie Angst davor, dass Ihnen das Gleiche geschehen könnte wie Nayla?«, konkretisierte Lena ihre Frage.
»Angst ist kein guter Ratgeber«, gab Samira eine ausweichende Antwort.
»Hatte Nayla Angst?« Lena meinte ein leichtes Zucken um Samiras Mundwinkel erkannt zu haben.
»Nayla war mutig. Sehr mutig. Vielleicht zu mutig.«
»Wie meinen Sie das?« Lena gingen die Antworten von Samira langsam auf die Nerven. Sie wollte etwas Handfestes haben. Etwas, woran sie anknüpfen konnte.
»Sie hatte keine Angst. Vor nichts. Nayla hat im Leben nichts geschenkt bekommen und hat es doch so weit gebracht. Weil sie immer nur nach vorne geschaut hat, sich Ziele gesetzt hat, die sie erreichen wollte. Wir waren wie Schwestern. Wir sind unseren Weg gemeinsam gegangen. Ohne Nayla wäre ich nie so weit gekommen. Ich hätte wissen müssen, dass sie in Gefahr ist. Hätte besser auf sie aufpassen müssen. Aber ich weiß nicht, warum sie in einer Hotelsuite gefunden wurde, in der sie nicht hätte sein sollen. Und ich weiß nicht, auf wen sie dort getroffen ist.«
Lena spürte, dass Samira wichtige Informationen zur Aufklärung des Falles beitragen könnte. Dass sie das aber nicht direkt tun würde. Intuitiv entschloss Lena sich dazu, auf Samiras Andeutungen einzugehen. »Hatte Nayla noch Kontakte nach Jordanien?«
»Ihre Eltern leben schon lange nicht mehr. Nayla ist bei ihrer Tante aufgewachsen, bei der Schwester ihrer Mutter. Sonst hatte sie niemanden mehr.«
»Hatte sie Kontakte zum GID?« Nachdem Lena von Justine van Bergen über die Identität von Nayla aufgeklärt worden war und später den Befund der Gerichtsmedizinerin gelesen hatte, hatte sie sich Gedanken gemacht. Mit den Erläuterungen von Till Krüger über die Hintergründe der Observierung von Gerold Haferstein kam ihr die Idee, dass Naylas Mörder auf eine perfide Art und Weise vielleicht Informationen aus ihr herausholen wollte. Informationen, die die Geschäfte von Gerold Haferstein betrafen. Warum sonst wurde sie ausgerechnet während seiner Abwesenheit in seiner Suite dermaßen drangsaliert und umgebracht? Schließlich war Haferstein tatsächlich Kunde bei dem Escort-Service. Das konnte doch alles kein Zufall sein. Lena hatte sich daraufhin weitere Informationen verschafft. General Intelligence Directorate, kurz GID, war der englische Begriff für den jordanischen Nachrichtendienst. Der galt als einer der wichtigsten und professionellsten Nachrichtendienste in der arabischen Welt. Man pflegte dort angeblich ein gutes Verhältnis mit den amerikanischen Kollegen von der CIA. Das Gleiche galt für die Beziehungen zum israelischen Geheimdienst, dem Mossad. Aber was hieß das schon?
Samira zeigte einen überraschten Gesichtsausdruck. »Zum Da’irat al-Muchabarat al-Amma?« Das war der arabische Name des Dienstes. »Nayla war stolze Jordanierin. Und sie verfolgte das politische Geschehen in unserer Heimat regelmäßig. Aber ich wüsste nicht, was sie mit dem GID zu tun gehabt haben sollte.«
»Möglicherweise hatte Nayla einen Kunden, für den sich der GID interessiert hat? Oder ein anderer Geheimdienst? Der Mann, der die Suite gebucht hat, in der Nayla gestorben ist, bewegt sich jedenfalls in Kreisen, die so eine Vermutung rechtfertigen könnte. Vielleicht vertrauen Männer aus Ihrem Kundenkreis Frauen wie Ihnen oder Nayla auch mal das eine oder andere Geheimnis an? Dinge, die sie sonst niemanden anvertrauen würden.«
Samira atmete tief durch. »Wenn dem so wäre, wären Sie dann noch die richtige Instanz für die Ermittlungen?«
Jetzt machte Lena einen überraschten Gesichtsausdruck. »Ich bin von der Mordkommission. Natürlich bin ich zuständig.«
»Ich kann Ihnen dazu aber nichts sagen. Haben Sie noch weitere Fragen? Ich muss heute noch einiges erledigen und habe nicht mehr viel Zeit.«
»Hatten Sie jemals Kontakt zum GID, Samira?«
Samira zögerte mit einer Antwort. »Ja, aber das hat nichts mit Naylas Ermordung zu tun. Ich wurde mal befragt. Damals war ich vierzehn Jahre alt.«
»Darf ich fragen, worüber Sie vom GID befragt wurden?«
»Über einen Mann. Er lebte damals in meiner Nachbarschaft.«
»Sie stammen aus einem palästinensischen Flüchtlingslager?«
»Ich bin dort aufgewachsen.«
»Und als Sie vierzehn Jahre alt waren, haben Sie es verlassen?«
»Das haben Sie gut erraten. Aber ja, so war es. Ich bekam die Möglichkeit, eine bessere Schule in Amman zu besuchen. Dort habe ich übrigens Nayla kennen gelernt. Unsere Wege haben sich später getrennt. Wir haben uns aber bald darauf in Deutschland wieder getroffen, als Studentinnen.« Samira stand auf und deutete an, dass sie das Gespräch jetzt nicht weiter fortführen würde. Lena verabschiedete sich und überreichte Samira ihre Karte.
»Sie können mich jederzeit anrufen.«
»Manchmal ist es schwer zu unterscheiden, wer Freund und wer Feind ist«, sinnierte Samira und öffnete die Wohnungstür. »Denken Sie daran, wenn Sie den Fall aufklären wollen.«
Lena stand schon im Treppenhaus. »Wie meinen Sie das?«
»So wie ich es sage. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Auf Wiedersehen.« Samira schloss die Tür.
Siebels hatte sich am Flughafen von Sabine und Denis verabschiedet. Etwas wehmütig schaute er ihnen hinterher, als sie im Sicherheitsbereich aus seinem Sichtfeld verschwanden. Er machte sich auf den Weg zu seinem Treffen mit Till. Vom Terminal 1 aus gelangte man über eine Fußgängerbrücke direkt zum Hilton. Siebels traf seinen ehemaligen Kollegen in der Executive Lounge, wo Gäste des Hauses in familiärer Atmosphäre ein Frühstück, Snacks oder Erfrischungsgetränke zu sich nehmen konnten. Till saß bereits auf einer der gepolsterten Sitzgruppen und trank einen Kaffee.
»Setz dich, Siebels. Hast du schon gefrühstückt?«
»Ja. Aber wenn ich dran denke, wie du mir früher immer ein belegtes Brötchen aus der Polizeikantine mitgebracht hast, und jetzt sehe, wie du als gestandener LKA-Kommissar zu speisen pflegst, bekomme ich wieder richtig Hunger.« Siebels grinste und ließ sich in einem Sessel nieder.
»Die Badewannen in den Suiten hier sind auch nicht schlecht«, erwiderte Till ungerührt.
»Das glaube ich dir aufs Wort. Aber von einem Bad mit dir möchte ich doch lieber Abstand nehmen.«
»Dann erzähle ich dir besser auch nichts von dem tollen Bett in der Suite. Leider komme ich kaum dazu, es auch mal zu benutzen.«
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