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Lena Leisig saß am späten Abend noch an ihrem Schreibtisch im Präsidium. Ihr erster Tag bei der Mordkommission wollte kein Ende nehmen. Noch ein paar Wochen, dann würde Steffen Siebels in den aktiven Dienst zurückkehren und mit ihr ein Team bilden. Bis dahin musste sie sehen, wie sie klar kam. Die Kollegen, die zuvor die Mordfälle bearbeitet hatten, waren genauso von der Bildfläche verschwunden wie Siebels und Till davor. Hauptkommissar Paul Lemgo hatte nur in einem Fall ermittelt. Danach hatte er sich mit einer Frau, die seine Tochter hätte sein können, in die Toskana zurückgezogen. Sein Team hatte sich kurz darauf aufgelöst. Julia Forster war schwanger geworden und hatte sich nach der Geburt dazu entschieden, eine längere Auszeit zu nehmen. Samuel König hatte es nicht überwunden, dass er weder der Vater des Kindes seiner Kollegin noch ihr Lebenspartner wurde und hatte sich nach Bremen versetzen lassen. Hauptsache weg von Frankfurt und seinem Arbeitsplatz, der voller Erinnerungen an eine enttäuschte Liebe war. Lena Leisig und Steffen Siebels waren dazu auserkoren worden, die entstandene Lücke zu füllen. Lena, die frischen Wind mitbringen sollte, und Siebels, der alte Hase, der auf ruhmreiche Tage bei der Mordkommission zurückblicken konnte. Aber Siebels würde erst nach den Sommerferien kommen, und deshalb saß Lena nun allein im Büro und betrachtete sich die Videoaufzeichnungen vom Hotel Jumeirah.
Leider gab es keine Videokameras in den Zimmerfluren. Aber das wird der Täter gewusst haben, dachte sich Lena und machte eine entsprechende Notiz. Der Täter hatte die Frau geschlagen, gewürgt und vergewaltigt. Das kann nicht geräuschlos vonstattengegangen sein. In der Suite daneben saßen die Leute vom LKA, die während der Tat nicht anwesend waren. Auf der anderen Seite lag eine Abstellkammer für das Personal. Konnte es wirklich sein, dass niemand etwas gehört hatte? In der Suite lagen dicke Teppiche, die Geräusche dämpften. Stand der Täter auf brutalen Sex, den er dann nicht mehr unter Kontrolle hatte? In einer fremden Suite? Für Lena ergab das alles noch keinen Sinn. Es sei denn, Haferstein wurde tatsächlich vom LKA gedeckt. Sie benötigte jetzt dringend den Obduktionsbericht und die Auswertung der Spurensicherung. Aber auf die ersten Ergebnisse würde sie wohl noch mindestens ein bis zwei Tage warten müssen. Vom Täter musste es DNA-Spuren im Überfluss geben. Aber das half nichts, wenn er bisher noch nicht in der Datenbank gespeichert war. Aber wenigstens konnte sie dann Haferstein tatsächlich ausschließen und musste nicht mehr an der Rechtschaffenheit des LKA in dieser Sache zweifeln. Lena konzentrierte sich wieder auf die Aufzeichnungen der Hotelkameras. Wenn es sich um einen geplanten Mord handelte, hatte der Täter sich vielleicht im Vorfeld auch über die Ausstattung der Videoüberwachung im Hotel informiert. Aber dort saß auch das LKA und beobachtete das Zimmer, in dem der Mord geschah. Als der Mord passierte, war die Suite, in der eigentlich niemand sein sollte, nicht überwacht worden. Hatte der Täter das vielleicht auch gewusst? Oder hatte er einfach nur Glück gehabt? Wer konnte von einer geheimen Überwachung durch das LKA gewusst haben? Handelte es sich nur um einen Täter oder gar um mehrere? Gerold Haferstein hatte in einer ersten unbedachten Reaktion gesagt, dass ihm jemand etwas anhängen wolle. Hatte er dabei an jemanden Bestimmtes gedacht? Jemand, der eine Frau schlug und vergewaltigte, bevor er sie erwürgte? Wollte jemand Informationen aus der Frau herausprügeln? Informationen über Gerold Haferstein, der Kunde bei dem Escort-Service war. Aber angeblich verkehrte Haferstein nie mit der ermordeten Frau, sondern mit einer gewissen Sarah. Handelte es sich bei dem Mord vielleicht sogar um eine Verwechslung? Lena kam einfach nicht weiter. Morgen musste sie mit den anderen Frauen sprechen, die für Justine van Bergen tätig waren. Mit Sarah. Und mit Samira, der anderen Frau mit jordanischen Wurzeln. Aufgewachsen in einem palästinensischen Flüchtlingslager, erinnerte sich Lena an die Worte von Justine van Bergen. Die beiden Frauen studierten Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt. Sie waren mehrsprachig, sie waren weltoffen und versüßten reichen Männern die Zeit mit ihrer Gegenwart. Männern wie Gerold Haferstein, der als Berater im Waffenhandel tätig war und vom LKA rund um die Uhr überwacht wurde. Lena betrachtete sich müde die Aufnahmen aus der Hotellobby. Gäste kamen und Gäste gingen. Die meisten davon waren Männer und wie Geschäftsleute gekleidet. Allein, zu zweit oder zu dritt. Hin und wieder erschienen Ehepaare. Gerold Haferstein hatte das Hotel morgens alleine verlassen und war nachmittags alleine wieder zurückgekehrt. Die Videoaufzeichnung unterstützte seine Aussage. Bisher hatte die Spurensuche keine Hinweise darauf gegeben, dass Haferstein körperlichen Kontakt mit der ermordeten Frau hatte. Die Kriminaltechniker hatten im Bad DNA-Proben von seiner Zahnbürste als Vergleichsmaterial genommen. So lange die Auswertung der Spurensicherung noch ausstand, musste sie sich auf andere Dinge konzentrieren. Neben den Aufzeichnungen der Videokameras aus der Hotellobby gab es noch in jedem Stockwerk Aufnahmen aus dem unmittelbaren Zugangsbereich zu den Aufzügen. Lena ließ das Video aus der neunten Etage abspielen, dort lag Hafersteins Suite. Till Krüger hatte den Mord um 14:23 Uhr bei der Polizei gemeldet. Da wäre die Leiche noch warm gewesen, hatte er gesagt. Lena konzentrierte sich auf die Zeit zwischen 12:00 und 14:30 Uhr. Um diese Zeit war nicht viel los im Hotel. Lena betrachtete sich im Vorlauf die Bilder der Kamera. Als die Uhrzeit in der Aufnahme bei 12:25 ankam, stoppte Lena das Band, ließ es zurücklaufen und schaute sich die Szene noch einmal an. Nayla verließ den Aufzug. Sie war allein. Sie hatte nur eine kleine Handtasche dabei. Diese Handtasche war nicht mehr da gewesen, als Lena am Tatort eingetroffen war. Nayla schaute auf die Uhr, als sie aus dem Aufzug trat. Sie wirkte nervös. Sie sah sich um, bevor sie in Richtung des Hotelzimmers ging. Das Zimmer lag weit außerhalb der Reichweite der Videokamera. Das nächste Mal öffneten sich die Aufzugtüren um 12:44. Eine Frau um die fünfzig trat mit zwei großen Einkaufstüten aus dem Fahrstuhl. Sie ging in den entgegengesetzten Hotelflur. Um 12:49 verließen zwei Männer den Aufzug. Sie gingen zielstrebig in die gleiche Richtung, wie zuvor Nayla. Lena machte einen Ausdruck von einem Standbild, auf dem die Gesichter der Männer einigermaßen erkennbar waren. Dann tat sich lange Zeit nichts. Die Aufzugtüren blieben verschlossen. Erst um 14:27 Uhr stieg wieder jemand in der neunten Etage aus. Ein Mann mittleren Alters im Anzug und einer Aktentasche in der Hand. Um diese Zeit hatte Till Krüger schon die Polizei gerufen. Aber er erschien nicht in der Videoaufzeichnung. Lena spulte zurück auf 10:00 Uhr.
Till überlegte fieberhaft, wie er die Observierung von Haferstein noch retten konnte. Er saß in der luxuriösen Hotelsuite vor dem Monitor und beobachtete, wie Gerold Haferstein mit gepacktem Koffer seine Unterkunft verließ. Till hatte noch zwei Leute vor Ort. Jürgen Becker saß in einem Sessel in der Lobby und beobachtete den Empfangstresen. Sonja Lesch saß im Wagen im Parkhaus MyZeil und wartete auf Instruktionen. Das Parkhaus war direkt mit dem Hotel verbunden und hatte einen Abstellplatz für die Autos der Hotelgäste. Haferstein war aber ohne eigenes Auto angereist. Er war mit dem Flieger aus Wien gekommen und in Frankfurt nur mit dem Taxi unterwegs. Till verließ seinen Posten, kurz nachdem Haferstein die Suite verlassen hatte. Er nahm den Weg über die Treppen nach unten. Mit einem Knopf im Ohr wartete er auf Informationen von Jürgen Becker aus der Lobby.
»Er kommt gerade aus dem Aufzug und geht zum Empfang«, vernahm er die Stimme seines Kollegen. Till gab Sonja Anweisung, mit dem Wagen vor den Hoteleingang zu kommen. »Der Hoteldirektor kommt zu Haferstein«, berichtete Jürgen Becker. »Ich versuche mal, ein bisschen näher ranzugehen.«
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