Der genaue Grenzverlauf war hier schwer zu bestimmen. Seit Jahrzehnten bereisten immer wieder Grenzkommissionen diese Gebiete und korrigierten die Markierungen, was in den meisten Fällen mit großer Liebenswürdigkeit geschah – ob auch zur beiderseitigen Zufriedenheit, darüber schwieg man sich aus. So kam es, daß manche Grenzbewohner nicht genau wußten, welchem der beiden Staaten sie eigentlich angehörten.
Der Sturm hatte in der Senke merklich nachgelassen. Dämmerung hing schwarz über dem rauschenden, bleifarbenen See. In kurzem Trab erreichte Thom die grauen Gebäude. Sie waren aus unbehauenen Steinplatten aufgeführt und sahen wenig einladend aus. Vor dem armseligen Bau lag alles leer und verlassen. Dahinter öffnete sich dem Gebirge zu ein schmales Tal, das dicht mit Wald bewachsen war.
Thom ritt bis zum Tor des von einer niedrigen Mauer eingefaßten Hofes und schlug gegen die lose angelehnte, halbverfallene Tür.
Dahinter hörte er Pferdeschnauben. Schritte näherten sich. Ein Sergeant in Uniform öffnete und schaute den späten Besucher erstaunt an.
„Buenos tardes, Señor Sergeant! Haben Sie Platz für einen müden Reisenden?“
„Treten Sie ein, Señor!“ sagte der Soldat kurz und wenig freundlich. „Ich muß Sie dem Leutnant melden.“
Da trat dieser auch schon über die Schwelle des Grenzhauses und nickte nachlässig zu Thoms Gruß. „Woher kommen Sie, Señor?“ fragte er sofort.
Thom Rheden streckte die Hand gegen Osten aus und beschrieb einen weiten Bogen. „Von dort drüben – über die Pampa herein.“
„Also von Rivadavia – kann ich den Ausweis sehen? Sie befinden sich im Grenzsperrgebiet!“ klärte ihn der Postenleiter auf.
„Das merke ich bereits!“ Thom nickte nachsichtig und wühlte langsam in seinen Taschen. Es verdroß ihn, daß man ihn nicht höflicher behandelte. Er zog die Hände leer aus den Taschen. „Was ich noch sagen wollte: Comandore Nunez läßt sich Ihnen empfehlen!“
Dieser Name weckte die schläfrigen Grenzwächter. Der Leutnant vergaß sogar die Frage nach dem Ausweis. „Wo trafen Sie Oberst Nunez?“ wollte er wissen.
„Gar nicht weit von hier. Er erwartet, daß Sie ihm mit einem gesattelten, zahmen Pferd entgegenreiten!“
Augenblicklich kam Leben in das müde Volk. „Was ist geschehen? Begleiten Sie uns!“ forderte der Leutnant Thom auf.
Rheden zweifelte jetzt daran, ob er von diesem Leutnant überhaupt einen Erlaubnisschein, ein permiso, für den Grenzübergang „an jeder beliebigen Stelle“ bekommen hätte. Nun würde ihm der abgebrannte Oberst doch noch von Nutzen sein.
Huemul, der sich hungrig über das spärliche Grün hergemacht hatte, ließ seinen Herrn nur ungern wieder in den Sattel steigen. Aber die Grenzsoldaten waren bereits mit einem Handpferd vorausgeritten, und Rheden mußte sie mit einem scharfen Trab den See entlang einholen.
Oben über der Pampa lagen die Schatten der Nacht. Der Nebel des Dezembertages hatte sich aufgelöst; eine bleiche Mondsichel hing mit den Spitzen nach oben am schwarzen Himmel. Auch der Pampero schlief ein. Im Osten glühte hinter dem Horizont ein Feuerschein. Brannte das Auto des Comandore noch immer – oder hatte er die Pampa angezündet, um ihnen die Richtung zu weisen?
Schweigend ritten sie hintereinander.
„Hallo, Señor Comandore, da sind wir!“ Thom hielt als erster sein Pferd an. „Hoffentlich ist Ihnen die Zeit nicht zu lang geworden?“
„Ich glaubte schon, Sie hätten sich auch verirrt!“ sagte Oberst Nunez erleichtert. „Sehen Sie sich das Blechgerippe dort an – es wird mich einen ausführlichen Bericht kosten, um die Herren in Buenos Aires zu überzeugen, daß ich keine Schuld an dem Unfall trage. Sie bestätigen das wohl?“ fragte er noch vorsichtig.
„Ich leiste Blankounterschrift, wenn der Bericht vor meinem Weiterritt noch nicht geschrieben sein sollte!“ Thom lachte. „Sie haben mir doch auch das permiso zugesagt!“
Es ging schon auf Mitternacht zu, als die kleine Eskorte die Polizeistation erreichte. Kein Wort fiel mehr darüber, ob es zulässig sei, einen Ausländer zu beherbergen. Nach dem unvermeidlichen Hammelbraten lud der Oberst seinen Gast noch zu einem Glas Vino negro im „Staatszimmer“ ein.
Während er eigenhändig das permiso schrieb, fragte er: „Sie kennen Patagonien auf der chilenischen Seite noch nicht?“
Thom schüttelte den Kopf. „Ich besitze aber ausgezeichnete Karten.“
„Karten? Was helfen Karten in einem Land, wo alle paar Jahrzehnte sogar die Flüsse ihre Namen wechseln – von den unterschiedlichen Bezeichnungen namenloser Berggipfel gar nicht zu reden?“
Rheden blickte ihn ungläubig an. „Ich werde mich nicht nach den indianischen Bezeichnungen richten. Die Ureinwohner, Tehuelche-Indianer und Alakaluf, sind ausgestorben.“
Nunez widersprach. „Manchmal taucht aus den unendlichen Regen wäldern im Westen noch eine Sippe Tehuelche auf. Aber das allein ist es nicht!“ Er holte eine Grenzkarte aus dem Wandschrank und breitete sie aus. „Was Sie in Chile Rio Cisnes nennen, heißt bei uns Rio Frias, Ihr Rio Claro ist auf unseren Karten Rio Ticos. Sie werden ohne Begleiter in den Regenwäldern zwischen den Flüssen bald verlorengehen!“
Thom Rheden wurde immer kleinlauter. Warum wußte man oben in Santiago darüber so wenig? „Ich werde mir in einem der ersten chilenischen Ranchos jenseits der Grenze einen Peon, einen eingeborenen Träger, mieten.“
„Sie werden zehn zu eins auf einen Wanderarbeiter von der Insel Chiloe treffen. Für Geld tut er alles – doch Patagonien ist ihm ebenso fremd wie Ihnen, Señor Rheden!“
Oberst Nunez begann in Thoms Achtung zu steigen – obwohl er nur ein Argentinier war. Seine Aufgabe erschien Rheden plötzlich gar nicht mehr so klar und überschaubar.
„Was würden Sie mir raten, Señor Comandore?“ fragte er betroffen.
Nunez sah nachdenklich auf sein junges Gegenüber. „Vielleicht stoßen Sie auf das Mylodon – es soll sich jetzt irgendwo oben am Palena oder am Rio Ticos aufhalten.“
Thom glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Das Mylodon, Señor Nunez, das ausgestorbene Riesenfaultier, das einst in Patagonien gelebt haben soll?“
Oberst Nunez lächelte nachsichtig. „Dieses Mylodon lebt noch! Wir Patagonier meinen damit jenen Jäger oder Trapper, der allein in Höhlen oder unter Windschirmen haust. Er kennt Patagonien vom Feuerland bis hinauf zum Rio Negro wie kein zweiter. Er soll einst aus Europa herübergekommen sein, aus Alemania, wenn die Gerüchte stimmen.“
Thom schüttelte sich, als gruselte ihn. „Ein Höhlenmensch also, der zur Natur zurückkehrte und auf allen vieren geht?“
Nunez‘ Blick wurde ernst. „Der Mann beschützt die letzten Sippen der Tehuelche, er heilt die armseligsten Ranchers, wenn sie krank auf ihren verfaulenden Fellen liegen – viele sagen sogar, daß er zu gleicher Zeit an zwei Orten gesehen wurde!“
Die weiße Flamme der Karbidlampe zischte leise. Thom blickte auf die rauh getünchte Wand des „Staatszimmers“ – in was für eine Welt war er geraten? Patagonien, das Land aus Sturm, Regen und Eis – was würde ihm, der nur ausgezogen war, die erste, andeutungsweise Trasse einer Güterstraße zu entwerfen, hier noch alles begegnen? Der wildeste, abweisendste Teil des Landes lag noch vor ihm – jetzt begann ihn diese Landschaft über seine nüchterne Aufgabe hinaus merkwürdig anzuziehen.
„Natürlich will ich den seltsamen Mann suchen – vielleicht nützt er meiner Aufgabe.“
Nunez schien von dieser Antwort enttäuscht. „Sie haben noch nicht vom Calafatestrauch gegessen, Señor Rheden!“
„Was bedeutet das, Comandore?“ fragte Thom verwundert.
„Wer vom Calafatestrauch ißt, kehrt nie mehr aus Patagonien zurück.“
Oberst Nunez erhob sich und führte seinen Gast aus dem Zimmer. Auf dem Gang stand ein Grenzsoldat, der wohl die ganze Zeit über stumm gewartet hatte. Jetzt führte er Thom in eine schmale Kammer: ein mit Lederstreifen bespanntes Bett mit einem Bündel weicher Schaffelle darauf, ein Stuhl, ein Wandbrett – aus!
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