Seine Freizeit schien besser. Er wohnte am Meer. Das allein kann eine Seele vor Schaden bewahren, auch wenn der Kanal im Vergleich zum, sagen wir, Indischen Ozean vor Sansibar eine triste Affäre ist. Jamie hatte Kindheitsgefährten im Ort, seine Eltern, Verwandte. Er grüßte mit Lichthupe, wenn er in seinem kleinen Toyota umherfuhr, kannte jeden Kreidefels im Umkreis von Kilometern, ging manchmal noch alte Lehrer besuchen. Er war nie wirklich rausgekommen, abgesehen von kurzen Pauschaltrips nach Spanien, die er Urlaub nannte, doch das störte ihn nicht. Er war zufrieden in seiner Sesshaftigkeit, und das war ein Punkt, in dem man neidisch sein konnte auf ihn.
Die Romanze mit Julia blühte. Er verliebte sich online, obwohl er so etwas nie für möglich gehalten hatte. Er erzählte seinen Kollegen von diesem Mädchen, richtete ihr Foto als Startscreen und Bildschirmschoner ein, stand plötzlich als jemand Besonderes da in der Firma. Eine Freundin in Odessa, das hatte nicht jeder. Inzwischen kostete ihn diese Freundschaft auch einiges. Jede Mail, die hin oder her ging, war zu bezahlen. Vierhundert Pfund und mehr kamen im Monat zusammen. Die Agentur schrieb dafür Punkte gut, genannt Credits. Auch die Blumen, die Jamie im Geschenksortiment der Seite auswählte und Julia schicken ließ, die Pralinen, Obstkörbe, Plüschtiere und Schreibblöcke für ihr Studium wurden gezählt.
Anfang Juni schlug er vor, sie zu besuchen. Er bot Termine an, bat um ihre Telefonnummer, damit man sich absprechen könne. Er hatte lange gezögert, sagte er mir, denn irgendwie machte es ihm auch Angst, wenn ein Geschöpf, das er nur schriftlich und von Fotos kannte, eine Stimme bekam. Natürlich war Telefonieren sein täglich Brot. Schon als Schüler hatte er im Call Center gejobbt und Tausende Kundengespräche geführt, Befragungen und Beratungen unterschiedlichster Art. Das Bequeme an ihnen war, dass man dem Leitfaden folgte. Mit Julia würde man improvisieren müssen. Eine Dolmetscherin würde neben ihr sitzen, und man wusste ja, wie schnell sich beim Übersetzen Missverständnisse einschleichen konnten.
Auf jeden Fall war es aufregend. Er machte den Vorschlag, doch Julia ging nicht darauf ein. Sie schrieb weiter von der Akazienblüte am Schwarzen Meer und ihrer Sehnsucht, wenn sie auf die blauen Wellen hinausblickte. Anstatt ihre Telefonnummer zu verraten, fragte sie nach dem englischen Wetter und anderem Unsinn. Jamie wunderte sich. Was war da los? Er mailte den Administratoren der Webseite. Man schickte ihm eine Art Kontoauszug und teilte mit, dass ihm noch Credits im Wert von eintausend US-Dollar fehlten. Vorerst sei deshalb kein persönlicher Kontakt zu Julia möglich.
Er fiel aus allen Wolken. Der Urlaubsplan in der Firma war abgesprochen, seine Woche im Juli stand fest! Ihm blieb keine Zeit, sein Konto mit Credits zu füttern. Und wozu überhaupt? Was waren das für beschissene Regeln? Er buchte Flug und Hotel, wollte die Sache vor Ort klären. Er war in Julia verliebt, und er würde sich nicht abhalten lassen von bürokratischen Hürden. Im Nutzerforum von Hot Ukrainian Brides wandte er sich an einen Kanadier, der dort über seine Traumheirat mit einer Lady aus Donetsk schwärmte. Der Mann gab ihm den Tipp, auf anderen Seiten nach Julia zu suchen. Es war angeblich üblich, dass Mädchen sich bei mehreren Agenturen registrierten. Was nur verständlich war, denn sie wollten raus aus ihrer Misere im Osten. Jamie sollte die Steckbriefe vergleichen, vielleicht hatte er Glück.
Er verbrachte Nächte vor dem Computer. Eine Woche vor Abflug fand er Julia tatsächlich ein zweites Mal, auf einer Webseite namens Odessa Romance . Die Fotostrecke war eine andere, doch er erkannte Julia wieder und auch die Angaben passten. Mit Briefeschreiben fing er nicht wieder an. Es gab einen besseren Weg. Odessa Romance bot die Adressen der Frauen zum Kauf an. Billig waren sie nicht, aber preiswerter als die Credits der Konkurrenz. Jamie kaufte Julias Daten, steckte den Zettel in seine Brusttasche und flog von London über Budapest nach Odessa. Es sollte eine Überraschung werden. Das war viel cooler als ein angekündigter Besuch, nicht wahr? Denn wo gab es das noch, dass man einfach aufkreuzte vor einer fremden Tür und auf den Klingelknopf drückte?
Ich lächelte still, während die Taxiheizung meine Zehen anblies. Ich konnte mir denken, wie sich mein Mitfahrer in Gedanken ans Schwarze Meer projiziert hatte: der Held aus dem Westen, der die arme Schaumgeborene rettet. In Wahrheit ging die Anreise nicht unbedingt glatt. Schon im Flugzeug wurde ihm komisch im Bauch, sagte Jamie, was am Kontrast zwischen seiner Nervosität und der eintönigen Landschaft unter ihm liegen mochte. Plötzlich tauchte das Meer auf, als hätte selbstder Pilot nicht damit gerechnet oder den Abzweig verpennt. Die Maschine kippte zur Seite, bis ihre Tragflächen senkrecht zwischen Wolken und Wasser standen, und flog eine atemberaubende Wende zurück Richtung Festland. Jamie sah Wellenkämme unter sich funkeln, Strandbuchten, Dächer.
Gott sei Dank, die Landung gelang. Die Rollbahn zum Flughafengebäude war mit Teerstopfen geflickt. Das hüpfte und holperte, und in Jamies Bauch ging es immer mehr durcheinander. In der Ankunftshalle stempelte eine Schnauzbärtige in grüner Uniform seinen Pass. Draußen lauerten Taxifahrer. Kerle wie Schränke. Einer von ihnen riss Jamie den Rollkoffer aus der Hand und lief los, zu seinem Auto. Zwanzig Dollar sollte der Transfer ins Stadtzentrum kosten, doch als das Auto an der Deribasov Street hielt, waren es plötzlich vierzig. Jamie bezahlte, fand das kleine Schild in der Einfahrt. Black Sea Hostel. Sein Hotel. Er hob den Koffer über die Schwelle, stolperte durch das Halbdunkel und musste sich erst einmal setzen. Nicht, weil er wie ich unter einer bösen Erinnerung litt. Sondern weil er Bauchkrämpfe hatte. So hatte er sich die Ankunft nicht vorgestellt.
»Kopf hoch«, sagte ich, »jetzt wirst du deine Freundin ja finden.«
Wir stiegen an einem großen Kreisverkehr aus. Jamie hatte keinen Sinn für Betrachtungen. Ich schon. Bei meiner Anreise hatte ich nur die Ränder eines Hochhausviertels gesehen. Nun stand ich mittendrin. Alles war bleich. Die Straßen liefen ins Endlose, gesäumt von pelzigen Fernwärmerohren und den hohen Mauern der Wohnblöcke. Menschentrauben quollen aus Kleinbussen und verloren sich sofort in der Weite der Gehsteige. Die Straßenlampen schwebten wie elliptische Ufos über der Fahrbahn. Bis zu zwanzig Stockwerke hatten die Häuser, zusammengesetzt aus Betonplatten, an denen der Zahn der Zeit mächtig genagt hatte. Dabei war das Viertel nicht alt. Ich schätzte, dass es aus den Siebzigern oder Achtzigern stammte. Kühn am Reißbrett geplant; in der Ausführung trostloser als ein Marathonlauf auf der Rückseite des Mondes. Van der Rohe und Le Corbusier hatten noch Pate gestanden, dazu das Ideal vom Sowjetmenschen, der in der Gemeinschaft aufging und mutig ausschritt in Richtung Zukunft, leider gehandicapt von Etatzwängen und sozialistischem Schlendrian.
In der Totale machte der Anblick müde. Doch im Detail war alles wach und lebendig. An der Ausfahrt des Kreisverkehrs zogen sich kleine Verkaufsstände entlang. Gerupfte Hühner auf Zeitungspapier, Kirschen und Blumen, sauer Eingelegtes in Gläsern. Eine Frau mit Kopftuch zapfte aus einem Kessel ein schwarzbraunes Getränk in die Plastikflaschen der Kunden. Ich hätte das Zeug gern probiert, doch ich kam nicht dazu. Jamie war mit dem Taxifahrer in Streit geraten. Der Mann war ausgestiegen und zeigte seine schwieligen Handflächen vor zum Beweis seiner Unschuld. Jamie hielt ihm Julias Steckbrief unter die Nase und verlangte, exakt bis zum Ziel gebracht zu werden. Dieses Ziel, Julias Adresse, war ein einziger Zahlensalat. Ein Abschnitt im Planquadrat, ein Wohnblock, ein Hauseingang, ein Apartment? Wir wussten es nicht. Ich fragte den Fahrer, gdje? Das hieß, wo? Es klang wie ein Schluckauf aus meiner Kehle. Der Mann zuckte die Achseln, rieb Daumen und Zeigefinger zusammen. Er wollte dreißig amerikanski Dollar fürs Herbringen.
Читать дальше