Nie gelang es mir am Telefon, seinen genauen Zustand zu erfahren. Mutter sagte mir nicht die Wahrheit. Sie betonte nur, wie gern er mich sehen würde – seinen einzigen, seinen verlorenen Sohn. Ich war auch nicht ehrlich zu ihr. Ich sagte, mein Projekt in Mexiko sei zu Ende und nun habe ich eins in der Ukraine zu laufen, sei stark eingespannt und brauche dringend einen Vorschuss aufs Erbteil, am besten in Dollar mit Western Union zu schicken.
»Wieso hast du nichts mehr?«, fragte sie in ihrer vom Alter knarzig gewordenen Stimme.
Ich hörte die Brandung in Garys Kopfhörer und das digital verzerrte Keifen der Möwen, die vor der Terrasse um Croissantkrumen bettelten.
»Man hat mich in Mexiko ausgeraubt«, log ich. »Und die neue NGO hier ist klamm.«
»Armer Guy«, sagte Mutter. »Komm heim, ich zahl dir den Flug.«
Und ich war wieder am Ende mit meinem Latein.
In jener ersten Woche mit den Bittstelleranrufen, bevor Jamie Durham einzog und meine Geldsorgen aufhörten, unternahm ich in Odessa viele Spaziergänge. Spazierengehen ist der Luxus des armen Mannes, genau wie die Beobachtung, das Gespräch, die Masturbation. Es war nicht immer leicht, mich aufzuraffen zu diesen Ausflügen. Ich wäre lieber im Hostel hocken geblieben oder im Treppenhaus, in der Vorahnung des inneren Friedens, den der indische Guru versprach. Doch die Grübelschleifen in meinem Hirn lösten sich nur auf, wenn ich dem Körper Bewegung verschaffte. Also ging ich spazieren und eignete mir wie nebenbei die Ortskenntnis an, die mich so wertvoll machen sollte in den Augen von Jamie.
Nach der Erkundung der Altstadt mit Deribasov Street, Seepromenade, Potemkintreppe und Hafen unternahm ich Ausflüge in den Park und zu den südlich aneinandergereihten Stränden. War ich an einem Ziel angekommen, wählte ich mir ein Objekt der Betrachtung. Trauriges war mir am Liebsten. Zum Beispiel setzte ich mich an einen altersschwachen Betontisch am Lanzeron-Strand und zählte die Wellen, die sich nicht im Traum messen konnten mit denen vor Mutters Terrasse. Am Bahnhof stellte ich mich in einen Fußgängertunnel und lauschte dem Gewirr der fremden Schritte, bis ich mir vorkam wie der einsamste Mensch auf der Welt. Auf dem Markt beobachtete ich Zigeunerinnen beim Feilschen und erkundigte mich nach dem Preis für Drahtspulen, Schrauben, zerfledderte Schuhe. Vor dem Schaukasten der Polizeistation rätselte ich über Steckbriefe gefundener Leichen. Ertrunken, erschossen, erwürgt? Wer konnte Hinweise geben zu diesen Unglücklichen?
In kleinen Eckläden beobachtete ich Alkoholiker, die ihre paar Griwna zusammenkratzten, um den billigsten Wodka zu kaufen. Ich sah Straßenkinder mit vom Leimschnüffeln fahlen Gesichtern und reiche Rüpel am Steuer von Landrovers, die sich den Weg frei hupten. Ich studierte Verwerfungen im Asphalt, Hinterhöfe im Abendlicht, blinkende Casinoreklamen, die Etiketten der Zigarettenschachteln am Kiosk. Stundenlang lief ich über die Boulevards, ohne Karte und sonstige Hilfsmittel, denn ich orientierte mich an der natürlichen Topografie und zur Deribasov Street fand man immer zurück.
Natürlich verfolgte ich hin und wieder auch das Schaulaufen dort. Die jungen Gazellen auf ihren schwindelerregenden Absätzen, für mich unerreichbar. Die Verachtung, mit der sie mich straften, einen einstigen Herzenshelden erster Klasse! Ihr Pendant im Sozialpanorama schienen Kerle mit geschorenen Schädeln und schlechten Manieren zu sein. So jedenfalls ließ sich die Art von Businessmen beschreiben, die im Café vor dem Hostel fläzten und ihre Vanillezigaretten rauchten. Auf dem Stuhl neben sich oder auf dem eigenen Schoß hatte jeder von ihnen eine Handtasche stehen. Herrenhandtaschen waren das, um genau zu sein, denn mit den Taschen ihrer Frauen und Freundinnen waren sie nicht zu verwechseln. Die meisten dieser albernen Dinger ähnelten Miniaturaktenkoffern aus dunklem Leder, mit Silbergriff, Schnallenschloss und einer Schlaufe fürs Handgelenk. Die Kerle trugen sie spazieren wie Statussymbole, wie die Aktentaschen aus exotischem Leder, die in der Generation meines Vaters Ansehen genossen hatten.
Mit solchen kleinen Beobachtungen beschäftigte ich meinen Geist. Eines Abends aber, als ich zurückkam ins Hostel, erlebte ich in der Lounge eine Szene, die mich beeindruckte. Ich erfuhr, was meine Mitbewohner in die Ukraine gelockt hatte: zwei Dutzend weiße Männer im besten Alter oder darüber, verteilt auf die Dingo, Ostrich, Koala und Shark Dormitorys. Drei Viertel von ihnen waren Amerikaner, der Rest Westeuropäer, und es gab einen Australier, der an jenem Abend bittere Tränen vergoss. Er saß auf der Couch, vor sich den gepackten Koffer, neben sich das Hostelmaskottchen, ein Plüschkänguru namens Eddie. Ich weiß nicht mehr, wie der Typ hieß. Ich weiß nur noch, dass er ähnlich groß war wie ich, jedoch massig statt sehnig und mit einer Led-Zeppelin-Mähne, die er vermutlich seit den Siebzigerjahren so trug und die ihm nun, als er sein Gesicht in den Händen verbarg, vor die Finger rutschte.
»Kopf hoch, Kumpel«, sagte einer der Männer, die sich um ihn versammelt hatten. »Mach nich’ auf wilde Abreise. Hast ja noch’n paar Tage bis zu deinem Flug.«
»Das Meer wimmelt von schönen Fischen«, sagte ein anderer.
Und Gary, der hinter der Bar stand und Bier zapfte, versprach seinem Landsmann: »Wir düsen heut Nacht nach Arkadia, da kommst du schnell auf andere Gedanken.«
Der Australier ließ die Hände sinken. Ein Ausdruck stand ihm im Gesicht, der Männer über vierzig erbärmlich aussehen lässt. Schmerz, Zorn, Trauer ... es war der Ausdruck eines Gescheiterten, eine Mischung, die sich in die Falten frisst wie der rote Sand, wenn man im offenen Bakkie-Truck durch die Namib fährt. Von Beruf war der Kerl Schafzüchter auf einer Farm in Queensland, wo die Menschen noch ehrlich miteinander umgingen, wie er schluchzend erzählte. In Odessa war er betrogen worden. Von einer Frau, die er heiraten wollte.
Es ging dabei unter anderem um einen Pelzmantel. So viel verstand ich aus den Gesprächsfetzen, die ich verfolgte. Ein Pelzmantel, mitten im Hochsommer? Ich fragte nicht nach, denn ich wollte mir nicht die Blöße der Neugier geben. Langsam, wie um sein Scheitern mit Würde zu tragen, erhob sich der Australier von der Couch, nahm seinen Koffer, nickte Good-bye und schritt zur Tür hinaus. Die Zurückgebliebenen schwiegen betroffen. Schließlich räusperte sich einer der Amerikaner. Er hieß Charles Spretzer, kam aus Hollywood und war Scheidungsanwalt. Ich erinnere mich gut an sein Äußeres. Schwarzer Bürstenhaarschnitt, mit Haarverpflanzungen füllig gehalten, das Gesicht rosig gespritzt und so stark geliftet, dass es androgyn und maskenhaft wirkte. Ein bisschen wie Tony Curtis in späten Jahren. Spretzer trug immer ein leichtes Jackett, Leinenhosen und Slippers, und einmal beobachtete ich durch die offene Tür zum Dingo, wie er mit freiem Oberkörper am Gestell seines Doppelstockbetts hing und Bauchpressen machte. Im Kühlschrank in der Küche bewahrte er Botoxspritzen auf, und sein Passport-Alter, wie er es nannte, hielt er geheim, denn es hatte mit seinem gefühlten Alter angeblich nicht das Geringste zu tun.
An jenem Abend, als der Australier so plötzlich abgereist war, dozierte Spretzer vor versammelter Mannschaft über die Gräben in der Mentalität zwischen bestimmten Menschen. Ein simpler Schafscherer, sagte er, musste es von vornherein schwer haben in einer kultivierten Stadt wie Odessa. Vor allem, wenn er geistreichen Ladys begegne, zu denen seine Pelzmantelfreundin mit Sicherheit gehört habe. Löckchen-Rob aus Kentucky, die Nummer zwei in der informellen Hostelhierarchie, stimmte dem zu, gab aber der Heiratsagentur eine Teilschuld. Sie habe dem Aussie die falsche Frau vermittelt, so einfach sei das.
Als Nächstes meldete sich ein gewisser Stevie aus Ohio zu Wort, der daheim noch bei seiner Mutter wohnte.
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