Ich sog die Luft ein, diese Aura von Verfall und Geheimnis, und stieg die Stufen nach oben. Im zweiten Stock kam ich an eine hohe, mit Schnitzereien verzierte Wohnungstür. Aus ihrem rechten Flügel hatte man einen Teil herausgesägt und eine Metalltür eingepasst, mit Spion und Tastatur für den Code. Ich drückte den Buzzer neben der nutzlos gewordenen Porzellanklingel. Ich weiß noch, dass mir ein Mann aufmachte, der sich sofort wieder abwandte und zurückging zu seinem Computer, der im Flur der Wohnung stand. Daneben standen noch vier oder fünf andere Computer auf Tischen, wie in einem Internetcafé oder Call Center. Alle waren von Männern besetzt, die mindestens mein Alter hatten und nicht wie Backpacker aussahen. Ich ging nach rechts in den Aufenthaltsraum, setzte mich auf einen Hocker an der Stirnseite der Bar, steckte mir eine Zigarette an. Ich hatte den Raum im Blick, den Balkon zur Straße im Rücken. Das wurde mein Platz, an dem ich viele Stunden zubrachte, bis Jamie einzog.
Die Wohnung hatte Charakter. Es gab Deckenstuck mit Puttenköpfchen und Rosen, im Fensterglas Flecken wie in erblindeten Spiegeln, Fischgrätenparkett, auf dem jeder Schritt knarrte. Siebzigerjahretapeten, die sich rollten wie alte Zehnägel. Über der Bar hing ein Bildschirm, auf dem Musikvideos liefen, mit viel nackter Haut. Vor Lenins Revolution hatten hier bestimmt reiche Leute gewohnt, mit Dienerschaft und französischer Gouvernante. Nach der Revolution hatte man sie verjagt und frischgebackene Sowjetbürger einquartiert. Zwei, drei Familien pro Zimmer, Küche und Bad für alle gemeinsam. Und nun, in ihrer neuesten Inkarnation, war die Wohnung ein Hostel. Ich erinnere mich an die Namen der Schlafsäle. Dingo, Shark, Koala, Ostrich und Crocodile. Und natürlich die Kangaroo Lounge, wo man sich traf. Alles war nach australischen Tieren benannt, denn der Betreiber des Hostels stammte aus Melbourne und pflegte seine Herkunft mit der üblichen Unbescheidenheit der Aussies.
Er hieß Gary und ich konnte mich über ihn nicht beschweren. Ich hatte auf seine Gastfreundschaft gehofft, auf ein Entgegenkommen, was das Finanzielle anging, doch was er für mich tat, übertraf meine Erwartungen. Er führte ein Hostel, wie man es kennt, mit Doppelstockbetten, Aufenthaltsraum, einem Please do your dishes -Schild in der Küche. Typische Gäste aber hatte er nicht. Er kam in die Lounge an jenem ersten Tag, unrasiert im Hawaiihemd, das über dem Bauch spannte, und offensichtlich verkatert. Als er meinen Rucksack an der Bar lehnen sah, stutzte er und musterte mich von unten bis oben: meine Trekkingsandalen und knielangen Shorts, das verschwitzte T-Shirt, die zum Zopf gebundenen, strähnigen Haare.
»Halleluja«, sagte er leise.
Es stellte sich heraus, dass ich der erste Backpacker war, den er begrüßte. Obwohl das Hostel schon zwei Jahre lang existierte. Er bot mir sofort einen Drink an, fragte mich aus. Woher, wohin, wie lange ... was man eben so fragt. Er tat es nicht beiläufig, sondern mit Ehrfurcht, wie einer, der sein Glück noch nicht glaubt. Ich nannte Indien als Ziel meiner Reise, den Überlandweg als bewusste Entscheidung. Zeit spiele keine Rolle, sagte ich, Geld schon. Zur Anmeldung zeigte ich meinen britischen Pass – die zweite Staatsbürgerschaft, die ich seit meiner Geburt besaß. Gary aber hatte ein feines Ohr. Er hörte an meinen Vokalen und meinem noch immer mit der Zunge getippten R, woher ich ursprünglich stammte.
»Wahnsinn«, rief er. »Du bist aus Südafrika!«
Jetzt blühte er richtig auf. Fast behandelte er mich wie einen lange verschollenen Bruder. Kein Saffa , schwor er, hatte je einen Fuß nach Odessa gesetzt. Brits ja, Aussies, Kiwis, Canucks und natürlich Amerikaner, die machten das Gros seiner Gäste aus. Dazu Franzosen, Deutsche, Spanier, Schweden. Alles schon da gewesen. Ich aber war eine Sensation, ein kleines Wunder. Er holte seine Putzfrau.
»Natascha«, sprach er feierlich, »dieser Mann ist ein Backpacker. Er heißt Guy Nicholas Green und kommt aus Südafrika, und er wird bei uns wohnen.«
Natascha war ein pummliges Mädchen, das wenig gemein hatte mit den Gazellen draußen in der Fußgängerzone. Sie starrte mich an, ein bisschen angewidert, wie mir schien, und erstaunt, dass ich hellhäutig war. Dann sagte sie etwas auf Russisch.
»Klar muss er duschen«, lachte Gary. »Aber erst muss er trinken.«
Der Stolichnaya brannte mir im Magen, denn außer einer moldawischen Salzbrezel am Morgen hatte ich noch nichts gegessen. Gary lieh mir ein paar Griwna, so hieß die Landeswährung, und gab mir das Passwort zu seinem Computer, damit ich über Skype meine Mutter anrufen konnte. Er bot an, dass mich ein Freund, der momentan vor der Krim kreuzte, im Segelboot nach Istanbul bringen würde. Dieser Freund war ein Kiwi, und auch das konnte in Garys Augen kein Zufall mehr sein. Er fing an, vom Commonwealth of Nations zu schwärmen, den historischen Banden zwischen unseren Ländern. Auf diese Freundschaft sollten wir uns besinnen in der slawischen Fremde, und wir tranken noch eine Runde, ehe er mir mein Zimmer zeigte.
Das Crocodile Dormitory lag auf der anderen Seite des Flurs. Es war groß und unbewohnt. Vier leere Doppelstockbetten: zwei links an der Wand, zwei rechts. Gary brachte mir Bettwäsche. Wie eine Präsidentensuite hatte er das Crocodile aufgespart für den Tag, an dem endlich ein echter, ehrlicher Backpacker einziehen würde, wie er mich nannte. Ich wählte das Bett am rechten Fenster, untere Liege. Die Matratze hing durch und war zu kurz für meine Beine, doch die Fensterbank war eine alte Marmorplatte, auf der ich, wenn ich mir dazu ein Kissen nahm, die Haltung des Gurus üben konnte, zu dem ich unterwegs war: wie er seelenruhig im Lotossitz saß, als wären seine Beine längst abgestorben, und über Gier, Hass und Nichtwissen sprach, die Ursachen für alles menschliche Leid.
Das Zimmer wurde vom Hinterhaus vor der Sonne geschützt. Ich schlief gut und erwachte mit ruhigem Geist, wenn morgens auf den Simsen die Tauben gurrten. Weil ich allein wohnte, konnte ich mich seelenruhig aus dem Laken schälen, nackt umhergehen und die Einheimischen im Hinterhaus beobachten, wenn sie ihre Fenster öffneten und mit der Hand fühlten, ob die Wäsche an den kleinen Stricken trocken war. In diesem Zimmer fiel mich die Hitze nicht an wie eine Hyäne. Es gab viel Platz, um ein bisschen Yoga zu üben, und da war noch etwas, das ich mochte: den Riss in der Wand gegenüber von meinem Bett, drei Meter lang und so breit wie meine Hand. Sand bröselte aus dem Gestein, wenn man kratzte. Ungünstige Bodenverhältnisse, erklärte mir Gary, dazu ein Labyrinth von Katakomben unter der Stadt, denn man hatte den Sandstein für die Häuser unterirdisch gewonnen.
Die Vorstellung, auf einem solchen geologischen Lochkäse zu sitzen, passte zu meiner Verfassung. Auch mein Fundament war ins Wanken geraten, und genau wie das Haus blieb ich beharrlich. Eine Qualität, die ich brauchte in den Telefonaten mit meiner Mutter. In Kapstadt war es eine Stunde früher als in Odessa. Ich störte Mutter regelmäßig beim Frühstück, das sie trotz der Wintertemperaturen von fünfzehn Grad plus auf ihrer Veranda einnahm. In eine Kaschmirdecke gewickelt saß sie an ihrem Tisch, vor sich einen Teller mit Croissants und die Gischtzungen des Atlantiks, der auf den Indischen Ozean traf. Ich hockte in Garys Besenkammer-Büro mit Blick auf die Wäsche der ukrainischen Nachbarn.
Mutter machte mir einen Vorschlag zur Güte, wie sie es nannte. Ich würde ein vorgezogenes Erbe aus dem Verkauf unseres Familiensitzes erhalten, genau wie meine Schwester, zu der ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Ich sollte nach Kapstadt kommen, um alles zu regeln. Dabei war das Haus längst verkauft und mein Anteil lag bequem auf der Bank. Mutter war nach Walker Bay gezogen, in eine Siedlung für reiche Rentner. Vater wohnte auch dort, allerdings nicht mehr bei ihr, sondern in einem Heim.
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