»Wenn das so ist«, stotterte er, »das ist ja fast so, also ich meine ...«
Spretzer schnitt ihm das Wort ab. Auf dem Tresen der Bar, direkt vor meinen Augen, klappte er seinen aus Kalifornien mitgebrachten Anwaltskoffer auf.
»An seinen unrealistischen Erwartungen ist jeder selbst schuld«, sagte er, »und mit Enttäuschung ist immer zu rechnen. Deshalb streue ich mein Risiko mit einem diversifizierten Portfolio, wie beim Aktienhandel. Ich investiere, halte meine Optionen am Laufen, nehme Kursschwankungen in Kauf, um am Ende meines Aufenthalts die Dividende einstreichen zu können.«
Er zog ein paar Formulare aus dem Aktenregister und zeigte sie herum. Es waren seine Verabredungen für den Abend, steckbriefähnlich präsentiert mit Fotos und Daten. Eine Blondine zum Dinner, eine Dunkle für die Cocktailbar und später für die Disco ein rothaariges Busenwunder. Alle drei Mädchen waren kaum über zwanzig. Spretzer zog weitere Bögen hervor, mit seinen Terminen für die kommenden Tage. Er drückte Löckchen-Rob einen Taschenrechner in die Hand und diktierte ihm Gewicht und Maße der Mädchen laut den Angaben der Agentur. Löckchen-Rob wandelte die Kilogramm und Zentimeter in Pfund, Fuß und Zoll, und Spretzer notierte die Ergebnisse fein säuberlich in die Bögen. Er kritisierte, sich diese Arbeit machen zu müssen. Die Agentur solle umstellen auf amerikanische Einheiten, forderte er, denn mit Kilogramm könne kein Mensch etwas anfangen.
»Stimmt«, sagte Stevie. »Außerdem frag ich mich auch, ich meine, kann man das alles so ...?«
»Guter Punkt«, antwortete Spretzer. »Manche Chicks machen sich größer und schlanker, als sie in Wirklichkeit sind. Sie tragen BHs, wo alles nach mehr aussieht. Und viele Fotos sind ein bisschen getürkt. Ihr versteht, was ich meine?«
Er fuhr mit seinem manikürten Fingernagel über das Register des Aktenkoffers zu einer Rubrik, die er mit dem Wort cheaters beschriftet hatte. Daraus zog er ein paar Blätter und erklärte, wie sich die betreffenden Damen in natura von ihren Hochglanzporträts unterschieden hatten: dass manche ein Doppelkinn hatten, braune Augen statt blauen, einen zu breiten Hintern, unreine Haut. Die Männer nickten. So etwas war schon einigen von ihnen passiert. Sie wollten künftig mehr auf der Hut sein, versprachen sie sich, und einander nicht als Rivalen betrachten, sondern sich austauschen und gegenseitig unterstützen. Schließlich saßen sie alle im selben Boot.
Und ich saß daneben. Ich fragte mich, wo ich hingeraten war. Das war kein Hostel, sondern ein Lonely Hearts Club für Heiratstouristen! Gary mietete die Wohnung von einer Agentur, die ihr Büro im Hinterhaus hatte und Kontakte zu ukrainischen Frauen vermittelte. Ich gebe zu, ich war unangenehm berührt, denn ich verband Heiratstourismus mit Wohlstandsgefälle und Patriarchat. Ich beschloss, auf Distanz zu bleiben zu meinen Mitbewohnern. Es war nicht schwer. Sie fanden mich ohnehin komisch, weil ich ihre Suche nicht teilte, und sie waren neidisch auf mich, weil ich ein Zimmer für mich hatte, während sie wie die Boy Scouts kampierten. Ich mimte den abgehalfterten Weltenbummler für sie und ließ durchblicken, dass ich pleite war. Das machte mich harmlos in ihren Augen, denn ein Kerl ohne Geld war für sie ein Kastrat, auch wenn seine Eier zufällig noch in der Hose steckten.
Abends war es dann immer dasselbe. Wenn die Sonne hinter die Häuser getaucht war, leerte sich die Lounge. Die Duschen am Ende des Flurs liefen heiß. In den Schlafsälen nebelten Parfüms und Achselsprays durcheinander. Auch wer kein Date hatte, bürstete sich heraus. Neue Nacht, neues Glück, diese Stimmung lag in der Luft. Ich blieb jedes Mal brav auf meinem Hocker sitzen, rauchte meine ukrainischen Camel und trank, was Gary spendierte. Auf dem Bildschirm über der Bar liefen Musikvideos, sexy und stumm gestellt. Zum Balkon herein strömte der Abend mit seinem klebrigen Lindenduft und den Geräuschen der Promenade: Grillenzirpen, Stimmengewirr, spitze Absätze auf dem Pflaster. Gegen zehn begannen die beiden Gitarristen vor dem Haus ihr Konzert. Guantanamera, Hotel California, Sweet Home Alabama ... sie spielten ein global verkäufliches Repertoire, gemischt mit Songs, die ich nicht kannte. Zusammen mit ein paar Stolichnaya auf Eis reichte das für die Schleifen in meinem Hirn, um ruhiger zu laufen. Wenn Gary gegen elf fortging zu seiner Freundin, schaltete er für mich die kleine Discokugel an der Decke der Lounge ein, vielleicht weil er dachte, das mache die Sache gemütlich. Und ich verbrachte die restliche Zeit bis zum Schlafengehen in der Gesellschaft der Lichtflitter, die monoton über mein Gesicht und die alten Sowjettapeten flossen.
Nach einer Woche kam meine Rettung. Jamie zog ein, Jamie Durham. Ich war schon mürbe vom Warten. Mutter hielt mich immer noch hin, Garys Kumpel mit dem Segelboot trieb sich sonst wo herum, und ich war unfähig, mich aufzuraffen zu einer echten Aktion. Zum Beispiel auf einem Cargoschiff anzuheuern oder mich als blinder Passagier auf eine Fähre zu schmuggeln. Oder zu trampen, weiter nach Süden. Früher waren solche Aufbrüche leicht gewesen für mich. Immer hatte ich Glück, immer traf ich fantastische Leute, die mir aus der Klemme halfen. Und Frauen, schöne Frauen, die sich mir schenkten. Nun fühlte ich mich impotent, ausrangiert, alt, und ich gelangte, wenn ich es wagte, in den Spiegel zu schauen, zu der Erkenntnis, dass ich noch nie einen quälenderen Stillstand durchgemacht hatte. Eine richtige Depression.
Jamie kam nachmittags an. Ich war spazieren und sah ihn erst abends. Er saß auf dem Sofa der Lounge, vor sich einen Koffer, neben sich Eddie, das Plüschkänguru. Wie der abgereiste Australier. Er blieb in sich gekehrt, beteiligte sich nicht am Gespräch der Heiratstouristen. Ab und zu strich er über die Brusttasche seiner Jacke, die er anbehielt trotz der Wärme. Er fiel mir sofort auf, denn er war deutlich jünger als der Rest der Belegschaft. Einunddreißig, und selbst das grämte ihn schon, wie er mir einmal sagte, nachdem wir uns kennengelernt hatten.
Soweit ich es beurteilen konnte, war er nicht hässlich. Nur ein bisschen klein geraten vielleicht. Er reichte mir bis zur Schulter, war weder zu dick noch zu dünn, hatte noch keinen Specknacken oder Bauch vom Trinken, hatte melancholische, feuchtblaue Augen, Myriaden von Sommersprossen im Gesicht und die Haare struppig gegelt, wie es daheim in England gerade angesagt war. Er trug Jeans, T-Shirt, Markenturnschuhe. Sein Bartwuchs war schwach, was nur praktisch sein kann, und am Kinn hatte er eine Narbe, die er sich als Junge beim Abrutschen von einem Brückengeländer geholt hatte, genauer gesagt beim Fast-Hindurchrutschen zwischen den Streben einer alten Holzbrücke, die in seinem Dorf an der südenglischen Küste über einen Fluss führte.
Sein Bett bei Gary hatte er vorgebucht, über die Webseite des Hostels. Bei der Buchung gab es ein Missverständnis. Dieses führte dazu, dass er spät abends noch in der Lounge hockte, als die anderen längst ausgeschwärmt waren. Gary raunte mir zu, der Neue sei unschlüssig, ob er bleiben oder wieder abhauen wolle. So etwas kam vor. Gary ging zu seiner Freundin, ich aber fühlte mich gestört in meiner Einsamkeit am Ende des Tresens. Ich konnte mich weder auf die Gitarrenmusik konzentrieren, die von unten heraufklang, noch auf die Nymphen in den Musikvideos. Schließlich räumte ich das Feld und ging schlafen. Am nächsten Morgen betrat ich wieder die Lounge, eine Zigarette zwischen den Lippen, den Kopf voller saftloser Drohungen an meine Mutter. Mein Fach im Hostelkühlschrank war leer und Garys Mikrokredit aufgebraucht. Ich hatte Hunger und ich fragte mich, ob ich noch einmal auf Garys Hilfe rechnen durfte und wie lange das gutgehen konnte. Denn auch für meine Übernachtungen hatte ich bisher nichts bezahlt.
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