„Suche sie nur..., dann bist DU dran!“ Das „Du“ war dick unterstrichen. Ganz offenbar hing Sabines Verschwinden – oder besser wohl Entführung - mit seinem eben erledigten Auftrag zusammen. Eine grausamere Warnung hätte man ihm nicht zukommen lassen können. „Ihr Schweine“, murmelte Wolf. „Aber ich werde euch und Sabine suchen und finden. Und dann gnade euch Gott!“ Aber warum hatten sie ihm hier nicht aufgelauert? Denn offenbar glaubten die Unbekannten, und er war der festen Überzeugung, daß hier mehrere Personen am Werk gewesen waren, daß Sabine etwas gewußt hatte, das sie interessieren könnte. Nun, dies war zumindest nicht der Fall gewesen. Leise ging Wolf durch die Räume. Wie im Trance schaute er sich noch um, konnte aber sonst nichts Auffälliges mehr entdecken. Das Telefon war tot. Irgendjemand mußte noch vor seiner Ankunft die Leitung durchtrennt haben. Oder hatten die Entführer gar auf ihn versteckt gewartet, um ihn noch zu beobachten? Warum aber hatten sie sich dann nur an Sabine gehalten? Schnell nahm er den Rucksack wieder auf den Rücken und überlegte, wie er auf schnellsten Wege zu Meurat kam. Das wertvolle Material, das er bei sich trug, mußte jetzt ganz besonders gut gesichert werden. Da aber das Telefon im Haus nicht mehr benutzbar war, konnte er sich nicht einmal von hier aus melden, um das Schreckliche Meurat mitzuteilen. Da fiel ihm blitzartig Sabines Auto ein. Die Schlüssel dazu hingen wie immer an dem kleinen Brett neben der Eingangstür. Er schloß diese fest hinter sich zu und lief rasch zu dem Wagen. Schon wollte er den Schlüssel in das Zündschloß stecken, als ihm auffiel, daß das Auto nicht abgeschlossen gewesen war. Sie schloß aber immer den Wagen ab. Er war einfach zu wertvoll in dieser Zeit, auch wenn es ein altersschwaches Modell war, um ihn leichtsinnig offen stehen zu lassen. Schließlich konnte nachts jeder schnell über die niedrigen Umzäunungen springen und sich an dem Fahrzeug zu schaffen machen. Zitternd zog er die Hand vom Zündschloß zurück. Vielleicht ... Wollte man ihn so aus dem Weg räumen? Wußten die Verbrecher nicht, daß er so kostbares Material bei sich trug? Eine Explosion hätte nicht nur ihn getötet, sondern auch alles andere restlos vernichtet. Oder welche Fallen hatte man gelegt? Gehetzt sah er sich auf dem dunklen Gelände des alten Gehöftes um. War da nicht eben ein Schatten hinter dem Holzschuppen? Oder narrten ihn schon die Sinne? Mit kaltem Schweiß auf der Stirn rannte er schließlich den Weg zur Fernstraße entlang. Nur weg von dem für ihn nun so verhängnisvollen Ort! Völlig erschöpft kam er nach etwa 20 Minuten an der breiten Chaussee an. Und er hatte Glück, ein Lastwagen nahm ihn mit in die Stadt. Aus der nächsten Telefonzelle rief er Meurat an. Es klingelte einige Male, dann meldete sich die ruhige Stimme des Anwalts. „Meurat, hier ist Wolf! Ich bin wieder da, aber es ist etwas ganz Böses geschehen! Bitte holen Sie mich hier schnell ab!“
„Was ist passiert? Haben Sie alles dabei?“ Am anderen Ende geriet der Jurist sichtlich aus der Fassung. „Sagen Sie mir nur noch, wo Sie jetzt sind.“ Wolf beschrieb seinen Standort am Stadtrand von Frankfurt an der Oder. „Ich bin schnellstens da“, sagte der Anwalt am anderen Ende und warf unvermittelt den Hörer auf die Gabel.
Erst in Meurats Wagen kam Wolf wieder etwas zur Ruhe. Der Anwalt war wie ein Irrer durch die abendliche Stadt gerast, um ihn rasch abzuholen. Die Begrüßung fiel den Umständen entsprechend nur kurz und hektisch aus. Noch im Auto schilderte Wolf aber das schreckliche Geschehen. Gab dem Fahrer gleichzeitig aber auch zu verstehen, daß die Dinge sich nun in dem Rucksack befänden, den er fest auf dem Schoß hielt. Sie fuhren in die Kanzlei. Als sie den Wagen abstellten, sahen sie sich aufmerksam um. Doch niemand schien sie verfolgt zu haben oder sonst erkennbar zu beobachten. Allerdings waren die Parkanlagen neben den Abstellflächen ins Dunkel des Abends gehüllt. Hinter den Bäumen und Büschen hätte so eine ganze Schar von Beobachtern hocken können, ohne erkannt zu werden. Eilig schritten sie daher zum Haus, wo Meurat sorgfältig die schwere Eingangstür wieder hinter ihnen verschloß. In der Kanzlei im ersten Stock angekommen setzte er rasch Kaffee auf und stellte die Cognacgläser auf den mächtigen Schreibtisch seines Büros. Die bräunliche Flüssigkeit brannte im ausgetrockneten Hals, weckte bei Wolf aber wieder die Lebensgeister. „Das ist ja wirklich eine furchtbare Geschichte“, sagte Meurat schließlich, als sie beim dampfenden Kaffee saßen. „Natürlich kümmere ich mich um alles. Wir werden die Feststellung von Sabines Verschwinden aber etwas nach hinten verlegen, wenn Sie dort draußen keiner gesehen zu haben scheint. Sind Sie sicher, daß sich nichts Wichtiges in ihrem Haus oder auf dem Grundstück befindet?“
„Völlig sicher“, antwortete Wolf. „Sie wußte ja nicht einmal, wo genau ich mich befand. Geschweige in was für einem Auftrag. Ich verstehe das einfach alles nicht.“
„Nun beruhigen Sie sich bitte etwas, auch wenn es schwer fällt. Ich verstehe Sie ja sehr gut.“ Meurat stand auf und legte ihm die große, breite Hand auf die Schulter. Auf jeden Fall müssen wir es der Polizei melden. Sie haben schließlich ihr Verschwinden entdeckt. Und es war bekannt, daß sie ihre Freundin war. Trotzdem, alles ist sehr schrecklich. Ich muß Sie aber irgendwie aus dem Schußfeld bringen. Schließlich haben Sie noch so Wichtiges zu erledigen.“
„Ich will aber, daß Sabine und diese Hundesöhne gefunden werden!“ fuhr Wolf auf. „Ja, ja“, wie gesagt, ich verstehe Sie ja wirklich“, entgegnete Meurat rasch. „Aber Sie wissen auch, mit wem wir es zu tun haben. Alles ist nicht einfach, glauben Sie mir. Das waren Profis von der dunklen Seite. Sie ahnen es genau wie ich. Da ging es nicht um irgendeinen läppischen Raubüberfall. Die suchten nach etwas und nahmen dann wohl die Frau mit. Wir müssen jetzt gut auf der Hut sein.“
„Bei Sabine war aber nichts“, regte Wolf sich weiter auf. „Sie haben sie umsonst entführt, das werden sie schon begriffen haben. Die Frage ist nur, was diese Verbrecher nun unternehmen werden. Hoffentlich bringen sie Sabine nicht um. Auch Sie scheinen mir gefährdet.“
„Ja“, entgegnete der Anwalt. „Das ist schon möglich. Daher müssen wir nun schnell handeln. Ich werde den Orden informieren, daß Sie eingetroffen sind, was sich begeben hat und vor allem, daß der Komtur sich auf ihre kurzfristige Ankunft einrichten soll. Es wäre das Beste, Sie übernachten hier. Gehen Sie nicht in Ihre Stadtwohnung. Morgen früh komme ich und dann besprechen wir alles Weitere. Möglicherweise reisen Sie schon morgen wieder ab. Wir müssen gerade jetzt dafür sorgen, daß die Materialien schnellstens und sicher auf die kleine Burg in Süddeutschland gelangen. Und ich werde mich persönlich um die Suche nach Sabine einschalten, das verspreche ich Ihnen. “
Wohl oder übel willigte Wolf in die Vorschläge Meurats ein. Dieser zeigte ihm noch die kleine Küche und den Sanitärraum der Kanzlei. „Und hier können Sie sich lang machen“, sagte er abschließend und wies auf das große Ledersofa an der Wand. Er gab ihm noch eine Decke und verabschiedete sich dann. „Passen Sie gut auf und öffnen Sie niemand“, warnte er ihn, dann fiel die schwere Tür der Kanzlei ins Schloß. Wolf riegelte noch zusätzlich ab und begab sich schließlich in die kleine Küche, wo er sich erst mal Kaffeewasser auf. Erschöpft ließ er sich in einem der schweren Sessel nieder und wartete, bis der aufgesetzte Wassertopf zu pfeifen beginne. Zehn Minuten später dampfte eine Tasse des schwarzen, anregenden Getränks vor ihm auf dem Tisch. Er fand keine Ruhe, doch das lag nicht an dem Kaffee. Zuviel war in den letzten zwei Tagen auf ihn hereingestürmt. Der Schmerz und Sorge um Sabines Verschwinden saß tief in ihm und noch immer glaubte er, sich durch die geheimnisvollen dunklen Gänge und Hallen der inzwischen wieder so fernen unterirdischen Station irren zu sehen. Alles kam ihm nun wie ein bizarrer Alptraum vor. Doch der mitgebrachte Inhalt des Rucksacks bestätigte nur allzu deutlich seine Erlebnisse. Und morgen würde er sich schon wieder auf die Reise machen. Langsam nickte er auf dem Sofa ein. Die Müdigkeit gewann schließlich Oberhand und führte ihn in unruhige, beängstigende Träume.
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