Sidney Sheldon - Das Erbe

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Der Medienzar Harry Stanford ist auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Er hinterläßt ein gigantisches Vermögen und die darauf spekulierenden Erben. Da ist Tyler, der älteste Sohn. Als Richter in Chicago lebt er, der Homosexuelle, in ständiger Angst um seinen guten Ruf. Tochter Kendall, beruflich erfolgreich, sitzt ein Erpresser im Nacken. Woody, der Jüngste, ist drogensüchtig. Und dann steht plötzlich eine Unbekannte vor der Tür und fordert ihren Anteil: Julia, eine angeblich uneheliche Tochter Stanfords. Die drei ehelichen Kinder setzen alles daran und schrecken vor nichts zurück, um ihr Erbe zu sichern.

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Sidney Sheldon

Das Erbe

"Laß die Morgensonne dein Herz Wärmen, wenn du jung bist, Laß die sanften Winde des Mittags Deine

Leidenschaft kühlen, Doch hüte dich vor der Nacht, Denn in ihr lauert der Tod,

Er wartet, wartet, wartet."

Arthur Rimbaud

Kapitel 1

«Sie haben gemerkt, daß wir beschattet werden, Mr. Stanford?«fragte Dmitri.

«Ja. «Ihm war schon vor einem Tag klargeworden, daß sie ihm folgten.

Es waren zwei Männer und eine Frau, die absolut unauffällig gekleidet waren und sich größte Mühe gaben, mit den Touristenscharen zu verschmelzen, die am sommerlichen Frühmorgen über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraßen flanierten. Nur war es gar nicht so leicht, in einem so kleinen alten Wehrdorf wie St-Paul-de-Vence unbemerkt zu bleiben.

Die drei Fremden waren Harry Stanford aufgefallen, weil sie allzu leger und unauffällig gekleidet waren und weil sie allzusehr den Eindruck zu wecken versuchten, nicht nach ihm Ausschau zu halten. Wo immer er sich umdrehte, er entdeckte jedesmal einen von ihnen im Hintergrund.

Harry Stanford war ein Mensch, den man leicht im Auge behalten konnte — eins achtzig groß, mit schlohweißem, langem Haar, das über den Hemdkragen fiel, mit aristokratisch vornehmen, beinahe schon anmaßenden Gesichtszügen. Außerdem befand er sich in Begleitung einer auffallend schönen, jungen Brünetten, eines schneeweißen Schäferhunds und seines Leibwächters Dmitri Kaminski — eines stiernackigen Riesen von eins neunzig mit fliehender Stirn. Es wäre wirklich ein Kunststück, überlegte Stanford spöttisch, uns aus den Augen zu verlieren.

Er wußte, wer die Auftraggeber der drei waren, und er kannte den Grund ihres Auftrags. Er spürte die Gefahr, denn er hatte früh im Leben gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen. Er hatte es seiner Intuition zu verdanken, daß er zu den reichsten Männern der Welt gehörte. Auf sechs Milliarden Dollar belief sich der Wert von Stanford Enterprises laut Schätzung des Wirtschaftsmagazins Forbes. In der jüngsten Fortune-Weltrangliste der fünfhundert größten Firmen war der Konzern mit einem Volumen von sieben Milliarden eingestuft worden. The Wall Street Journal, Barron's und The Financial Times hatten Harry Stanford als Unternehmerpersönlichkeit in aller Ausführlichkeit gewürdigt. Die Redakteure der drei führenden Wirtschaftszeitungen hatten alles versucht, um dem persönlichen Geheimnis, dem außergewöhnlichen Sinn für Timing und dem unvorstellbaren Scharfsinn des Firmengründers auf die Spur zu kommen, mit denen sie sich den Aufbau eines Riesenunternehmens wie Stanford Enterprises erklärten. Aber keinem der drei war das wirklich gelungen.

In einem Punkt stimmten The Wall Street Journal, Barron's und The Financial Times allerdings überein: daß Harry Stanford eine fast mit Händen zu greifende, eine geradezu manische Tatkraft besaß. Er verfügte über unermeßliche Energien, und seine Devise lautete schlicht und einfach: Ein Tag ohne Deal ist ein vergeudeter Tag. Konkurrenten, Angestellte, alle, die mit ihm in Berührung kamen — keiner konnte mit ihm mithalten; Harry Stanford erschöpfte alle und jeden. Er war ein Phänomen, förmlich überlebensgroß. Er hielt sich für einen religiösen Menschen, und er glaubte an Gott — und der Gott, an den er glaubte, der wollte, daß Harry Stanford reich und erfolgreich war und über seine Feinde siegte.

Harry Stanford war eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, von der die Medien alles wußten. Er war aber auch ein sehr privater Mensch, den die Medien nicht kannten. Sie hatten über sein Charisma geschrieben, über seinen luxuriösen Lebensstil, sein Privatflugzeug und seine Privatjacht, die legendären Villen in Hobe Sound, Marokko, Long Island,

London, Südfrankreich und, natürlich, über den herrschaftlichen Landsitz Rose Hill im Bezirk Back Bay von Boston. Der wirkliche, der echte Harry Stanford aber war allen ein Rätsel geblieben.

«Wohin gehen wir eigentlich?«wollte die junge Frau an seiner Seite wissen.

Er war viel zu sehr in Gedanken versunken, um auf die Frage zu antworten. Das Pärchen auf der anderen Straßenseite praktizierte die Methode des Partnertausches und hatte gerade wieder einmal seine Partner gewechselt. Neben dem Gefühl von Bedrohung empfand Stanford zunehmend Verärgerung; er war aufgebracht über die Verletzung seiner Privatsphäre und weil sie es wagten, ihm ausgerechnet hierher zu folgen, an seinen geheimen Zufluchtsort, wo er sich vor aller Welt verbarg.

St-Paul-de-Vence ist ein malerisches Dorf aus dem Mittelalter, das zwischen Cannes und Nizza landeinwärts auf einer Erhebung der Seealpen liegt — inmitten einer atemberaubend schönen Zauberlandschaft von Hügeln und Tälern voller Blumen, Obstgärten und Fichtenwälder. Das Dorf mit seiner Fülle von Künstlerateliers, Kunstgalerien und hinreißenden Antiquitätengeschäften zieht Touristen aus aller Welt magnetisch an.

Harry Stanford und seine Begleiter erreichten die Rue Grande.

Er wandte sich an die junge Frau.»Besuchst du gern Museen, Sophia?«

«Ja, caro.« Sie wollte ihm unbedingt gefallen, sich nach seinen Wünschen und Vorstellungen richten. Einem Mann wie Harry Stanford war sie bisher noch nie begegnet. Da werden mie amice aber die Ohren spitzen, wenn ich ihnen von ihm erzähle. Ich hatte geglaubt, daß es beim Sex für mich nichts Neues mehr gäbe, aber, mein Gott — ist dieser Kerl erfinderisch! Der macht mich richtig fertig!

Sie gingen bergan zum Museum der Fondation Maeght, wo sie die berühmte Sammlung mit Gemälden von Bonnard, Chagall und zahlreichen anderen, zeitgenössischen Künstlern betrachteten. Als Harry Stanford sich wie zufällig umschaute, bemerkte er die Frau am anderen Ende des Museumsraums, die völlig in einen Miro vertieft schien.

«Hungrig?«fragte Stanford Sophia.

«Ja, falls du auch Hunger hast.«Nur nicht aufdringlich sein.

«Gut, dann essen wir zu Mittag. Im La Colombe d'Or.«

La Colombe d'Or war ein Lieblingsrestaurant Stanfords, das sich in einem Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert am Dorfeingang befand und vor kurzem zu einem HotelRestaurant umgebaut worden war. Stanford führte Sophia im Garten zu einem Tisch am Swimmingpool, von wo aus er einen Braque und einen Calder bewundern konnte.

Ihm zu Füßen lag Prinz, sein unablässig wachsamer, weißer Schäferhund — sein Wahrzeichen, sein ständiger Begleiter. Auf Harrys Befehl würde das Tier, so hieß es, einem Menschen die Gurgel durchbeißen — ein Gerücht, dem niemand auf den Grund zu kommen suchte.

Dmitri ließ sich an einem Tisch beim Hoteleingang nieder, um alle hereinkommenden und hinausgehenden Gäste in Augenschein zu nehmen.

Stanford sprach Sophia an.»Darf ich für dich auswählen, meine Liebe?«

«Ja, bitte.«

Harry Stanford pries sich selbst einen Gourmet. Er bestellte einen grünen Salat und fricassee de lotte für beide.

Der Kellner servierte gerade den Hauptgang, als Daniele Roux, die das Hotel zusammen mit ihrem Mann Francois führte, freundlich lächelnd an den Tisch trat.»Bonjour. Alles in Ordnung, Monsieur Stanford?«

«Alles in bester Ordnung, Madame Roux.«

Und so sollte es auch in Zukunft bleiben. Winzlinge sind das, die einen Riesen zu Fall bringen wollen. Da werden sie aber eine Enttäuschung erleben.

«Hier war ich noch nie, welch ein hübsches Lokal«, sagte Sophia.

Stanford wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu, die Dmitri am Tag vorher in Nizza für ihn aufgegabelt hatte.

«Mr. Stanford, ich habe Ihnen jemanden mitgebracht.«

«Hat Sie es Ihnen schwergemacht?«hatte Stanford wissen wollen.

Dmitri hatte gegrinst.»Nicht im geringsten. «Sie war ihm im Foyer des Hotels Negresco aufgefallen, und er hatte sie einfach angesprochen.

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