Donnerstag, 10. September 1992 20.00 Uhr
Die Boeing 727 durchflog ein Meer aus Kumuluswolken, die das Flugzeug wie eine große silberne Feder auf und ab warfen. Aus dem Kabinenlautsprecher drang die besorgte Stimme des Piloten.
»Sind Sie angeschnallt, Miss Cameron?«
Keine Antwort.
»Miss Cameron ... Miss Cameron ...«
Die Stimme ließ sie aufschrecken. »Ja?« Sie hatte von glücklicheren Zeiten, glücklicheren Orten geträumt.
»Alles in Ordnung? Das Gewitter ist bald vorbei, hoffe ich.«
»Mir geht's gut, Roger.«
Vielleicht haben wir Glück und stürzen ab, dachte Lara Cameron. Das wäre ein passendes Ende. Irgendwo, irgendwie war alles schiefgegangen. Schicksal, überlegte Lara. Gegen sein Schicksal kommt man nicht an. Im vergangenen Jahr war ihr Leben wild trudelnd außer Kontrolle geraten, und nun war sie in Gefahr, alles zu verlieren. Wenigstens kann sonst nichts mehr schief gehen, dachte sie mit schwachem Lächeln. Es gibt nichts mehr.
Die Tür zum Cockpit öffnete sich, und der Pilot kam in die Kabine. Er blieb kurz stehen, um seinen Passagier zu bewundern - eine schwarzhaarige Schönheit mit makellosem Teint und klugen grauen Augen. Sie hatte sich nach dem Start in Reno umgezogen und trug jetzt ein schulterfreies weißes Abendkleid, das ihre schlanke, verführerische Figur betonte.
An ihrem Hals glitzerte ein Kollier aus Rubinen und Brillanten. Wie kann sie so gelassen wirken, obwohl die Welt um sie her in Trümmer fällt? fragte er sich. Die Medien griffen sie seit Wochen erbarmungslos an.
»Funktioniert das Telefon wieder, Roger?«
»Leider noch nicht, Miss Cameron. Die elektrischen Störungen im Gewitter sind zu stark. Und wir werden La Guardia leider erst mit ungefähr einer Stunde Verspätung erreichen.«
Ich komme zu spät zu meiner Geburtstagsparty, dachte Lara. Alle werden da sein. Zweihundert Gäste, darunter der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, der Gouverneur des Bundesstaates New York, der Oberbürgermeister, Hollywoodstars, berühmte Sportler und Finanzleute aus einem halben Dutzend Länder. Sie hatte die Gästeliste persönlich durchgesehen und genehmigt.
Sie sah den Bankettsaal im Cameron Plaza, in dem ihre Party stattfand, schon vor sich. Von der Decke hingen Kronleuchter herab, deren Kristallprismen wie Diamanten funkeln würden. Die zweihundert Gäste würden sorgfältig plaziert an zwanzig runden Tischen sitzen, die mit feinstem Damast, Porzellan, Gläsern und Silber gedeckt waren. Und in der Mitte jedes Tisches würde ein Blumenarrangement aus weißen Orchideen und weißen Freesien stehen.
An beiden Enden der großen Empfangshalle draußen vor dem Saal würde je eine Bar aufgebaut sein und mitten in der Halle ein großes Buffett. Ein Schwan aus klarem Eis sollte von Beluga-Kaviar, Räucherlachs, Shrimps, Hummer und Krabben umgeben sein, während in Eiskübeln Champagner bereitstand. In der Küche würde die zehnstöckige Geburtstagstorte warten, Oberkellner, Pagen und Wachpersonal schon lange in Position sein.
Im Bankettsaal hätte ein Tanzorchester das Podium bezogen, um die Gäste zu verlocken, zur Feier ihres vierzigsten Geburtstages die Nacht durchzutanzen. Alles würde bereit sein.
Das Dinner würde köstlich sein. Sie hatte die Speisefolge selbst ausgewählt. Als Vorspeise würde es Foie gras geben, danach eine Pilzsuppe unter einer delikaten Kräuterkruste, dann Seezungenfilets und als Hauptgang Lamm in Rosmarin mit erlesenen Gemüsen und einem Kartoffelgratin. Käse und Trauben würden folgen und schließlich die Geburtstagstorte mit Kaffee, Mokka und Kognak.
Es würde eine großartige Geburtstagsparty werden. Lara würde erhobenen Hauptes durch die Reihen ihrer Gäste schreiten und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Sie war Lara Cameron.
Als ihr Privatjet endlich auf dem New Yorker Flughafen La Guardia landete, hatte er eineinhalb Stunden Verspätung.
Lara wandte sich an den Piloten. »Wir fliegen spät nachts wieder nach Reno zurück, Roger.«
»Wie Sie wünschen, Miss Cameron.«
Ihr Chauffeur wartete mit ihrer Limousine am Rand des Vorfelds.
»Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht, Miss Cameron.«
»Wir sind in scheußliches Wetter geraten, Max. Bringen Sie mich so schnell wie möglich ins Plaza.«
»Ja, Ma'am.«
Unterwegs griff Lara nach dem Autotelefon und wählte Jerry Townsends Nummer. Er hatte die Party organisiert. Lara wollte sich davon überzeugen, daß fürs Wohl ihrer Gäste gesorgt war. Aber Jerry meldete sich nicht. Er ist sicher im Ballsaal, dachte Lara.
»Beeilen Sie sich, Max.«
»Ja, Miss Cameron.«
Beim Anblick des riesigen Hotels empfand Lara unwillkürlich tiefe Befriedigung darüber, was sie erreicht und geschaffen hatte. Aber an diesem Abend hatte sie es zu eilig, um darüber nachzudenken. Im Bankettsaal würden schon alle ungeduldig
auf sie warten.
Lara stieß die Drehtür vor sich her und hastete durch die großzügige Halle des Cameron Plaza. Carlos, der stellvertretende Direktor, sah sie und eilte auf sie zu.
»Miss Cameron .«
»Später«, wehrte Lara ab. Sie ging weiter, erreichte die geschlossenen Türen des Bankettsaals und blieb stehen, um tief Atem zu holen.Ich bin bereit, ihnen gegenüberzutreten, dachte Lara. Sie stieß mit einem Lächeln auf dem Gesicht die Türen auf und blieb verblüfft stehen. Der große Saal lag in tiefem Dunkel. Sollte das eine Überraschung für sie werden? Sie tastete nach dem Hauptschalter neben der Tür. Hunderte von Lampen flammten auf und tauchten den Ballsaal in gleißend helles Licht. Aber er war leer! Kein einziger Mensch war zu sehen. Lara stand wie vor den Kopf geschlagen da.
Was, um Himmels willen, konnte aus zweihundert Gästen geworden sein? Auf den Einladungen hatte zwanzig Uhr gestanden. Inzwischen war es fast zehn. Wie konnten so viele Menschen sich in Luft aufgelöst haben? Das war geradezu unheimlich. Während sie sich in dem riesigen leeren Ballsaal umsah, spürte sie, wie ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Bei ihrer Geburtstagsparty vor einem Jahr war derselbe Raum voller Freunde, voller Musik und Lachen gewesen. Sie erinnerte sich so gut an diesen Tag.
Vor einem Jahr hatte Lara Camerons Terminkalender nicht viel anders als an jedem gewöhnlichen Werktag ausgesehen.
10. September 1991:
05.30 Uhr Frühsport mit Trainer
07.00 Uhr Auftritt inGood Morning America
07.45 Uhr Besprechung mit japanischen Bankiers
09.30 Uhr Jerry Townsend
10.30 Uhr Mitarbeiterbesprechung (Planungsfragen) 11.00 Uhr Faxe, Auslandsgespräche, Post 11.30 Uhr Mitarbeiterbesprechung (Baufortschritte) 12.30 Uhr Besprechung mit Vertretern von Sparbanken 13.00 Uhr Mittagessen - Interview für das MagazinFortune
- Hugh Thompson 14.30 Uhr Besprechung mit Bankiers (Metropolitan Union) 16.00 Uhr Städtischer Planungsausschuß 17.30 Uhr Besprechung mit Oberbürgermeister 18.15 Uhr Besprechung mit Architekten 18.30 Uhr Städtischer Bauausschuß 19.30 Uhr Cocktails mit Investoren aus Dallas 20.00 Uhr Geburtstagsparty (Cameron Plaza)
Lara hatte schon ungeduldig auf ihren Trainer Ken gewartet. »Sie kommen zu spät.«
»Entschuldigung, Miss Cameron. Mein Wecker hat nicht geklingelt, und ich bin ...« »Ich habe heute viel zu tun. Fangen wir lieber gleich an.« »Okay.«
Auf zehn Minuten Lockerungsübungen folgten Stretching und energische Aerobics.
Sie hat den Körper einer Zwanzigerin, dachte Ken. Die hätte ich gern mal in meinem Bett. Es machte ihm Spaß, jeden Morgen herzukommen, nur um sie anzusehen und in ihrer Nähe sein zu können. Wurde er gefragt, was oft vorkam, wie Lara Cameron im persönlichen Umgang sei, antwortete er nur: »Die Lady ist große Klasse.«
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