Mit fünfzehn kam Lara in die St. Michael's High-School. Sie war schlaksig und unbeholfen - mit langen Beinen, strähnigem schwarzen Haar und hellwachen grauen Augen, die noch immer zu groß für ihr blasses, schmales Gesicht zu sein schienen. Noch konnte niemand sagen, wie sie sich später entwik-keln würde. Sie stand an der Schwelle zum Erwachsensein und durchlebte gerade eine Metamorphose, aus der sie häßlich oder schön hervorgehen konnte.
James Cameron hielt seine Tochter für häßlich. »Am besten heiratest du gleich den ersten, der blöd genug ist, dir 'nen Antrag zu machen«, riet er ihr. »Bei deinem Aussehen kriegst du vielleicht nie 'ne zweite Chance.«
Lara stand schweigend da.
»Und sag' dem Kerl, daß er von mir keine Mitgift zu erwarten hat.«
Eben war Mungo McSween hereingekommen. Er mußte sich beherrschen, um nicht dazwischenzufahren.
»Das war's, Mädchen«, sagte James Cameron. »Ab mit dir in die Küche!«
Lara stürzte hinaus.
»Mußt du deine Tochter so behandeln?« fragte McSween aufgebracht.
James Cameron starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. »Was ich tue, ist meine Sache!«
»Du bist betrunken.«
»Genau. Was bleibt mir sonst übrig? Sind's nicht die Weiber, ist's der Whisky.«
McSween ging in die Küche, wo Lara das Geschirr spülte. Ihre roten Augen zeigten, daß sie geweint hatte. McSween legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter. »Nimm's nicht so tragisch, Kleine«, sagte er. »Er meint's nicht wirklich so.«
»Er haßt mich!«
»Nein, das tut er nicht.«
»Er hat mir noch nie ein freundliches Wort gegönnt. Niemals. Kein einziges!«
Darauf wußte McSween keine Antwort.
Im Sommer kamen Touristen nach Glace Bay. Sie reisten mit ihren teuren Autos an, trugen elegante Kleidung, kauften in der Castle Street ein, dinierten im Cedar House oder in Jasper's Restaurant und besuchten Ingonish Beach, Cape Smokey und Bird Island. Lara beneidete diese höheren Wesen aus einer anderen Welt und sehnte sich danach, mit ihnen zu entkommen, wenn sie am Ende des Sommers abreisten. Aber wie sollte ihr das gelingen?
Lara hatte viele Geschichten von Großvater Maxwell gehört.
»Der alte Hundesohn hat versucht, mich daran zu hindern, seine kostbare Tochter zu heiraten«, erzählte James Cameron jedem Gast, der die Geduld aufbrachte, sich seine Tiraden
anzuhören. »Er ist stinkreich gewesen, aber glaubst du, er hätte mir was abgegeben? Der doch nicht! Aber seine Peggy hat's bei mir immer gut gehabt ...«
Und Lara träumte von dem Tag, an dem ihr Großvater kommen und sie holen würde, um mit ihr in die herrlichen Städte zu reisen, von denen sie gelesen hatte: London, Rom, Paris ...
Und er kauft mir lauter schöne Sachen, dachte sie. Dutzende von Kleidern und neuen Schuhen.
Aber als Monate und Jahre verstrichen, ohne daß Großvater Maxwell von sich hören ließ, erkannte Lara schließlich, daß er niemals kommen würde. Sie war dazu verdammt, ihr Leben in Glace Bay zu verbringen.
Für Teenager gab es in Glace Bay eine Vielzahl von Freizeitbeschäftigungen: Fußball und Eishockey, Bowling und Eislauf, im Sommer Angeln und Schwimmen. Jeden Tag nach der Schule war Carl's Drugstore ein beliebter Treffpunkt. In der Stadt gab es zwei Kinos, und im Venetian Garden wurde getanzt.
Für solche Vergnügungen hatte Lara nie Zeit. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, um Bertha beim Frühstück zu helfen und alle Gästebetten zu machen, bevor sie in die Schule ging. Nachmittags hastete sie nach Hause, um bei den Vorbereitungen fürs Abendessen zu helfen. Sie servierte gemeinsam mit Bertha, räumte nach dem Essen den Tisch ab, wusch das Geschirr und trocknete ab.
Die Gespräche der Schotten beim Abendessen bewirkten, daß Lara das schottische Hochland deutlich vor Augen standen. Ihre eigenen Vorfahren stammten aus dem Hochland, und die Erzählungen davon gaben Lara das einzige Heimatgefühl, das sie kannte. Die Gäste erzählten von einem tiefen Tal, in dem der Loch Ness lag, von Lochy, Linnhe und den unwirtlichen Inseln vor der Küste.
Im Salon stand ein verstimmtes Klavier, um das sich abends nach dem Essen manchmal ein halbes Dutzend Gäste versammelte, um Volkslieder aus der Heimat zu singen: »Annie Laurie«, »Comin' Through the Rye«, »The Hills of Home« und »Loch Lomond«.
Einmal im Jahr fand in der Stadt ein Festumzug statt, und alle Schotten in Glace Bay trugen stolz ihre Kilts und Tartans und marschierten zu schriller Dudelsackmusik durch die Straßen.
»Warum tragen die Männer Röcke?« wollte Lara von Mungo McSween wissen.
Er runzelte die Stirn. »Das ist kein Rock, Mädchen, sondern ein Kilt. Den haben unsere Vorfahren vor Jahrhunderten erfunden. Im Hochland hat der Kilt seinen Träger vor bitterer Kälte geschützt, aber ihm auch Beinfreiheit gelassen, damit er über Moor und Heide rennen und seinen Feinden entkommen konnte. Und wenn er nachts im Freien übernachten mußte, hat sein langer Kilt ihm als Bett und Zelt zugleich gedient.«
In Laras Ohren klangen die Namen schottischer Dörfer wie Musik ... Llandaff und Breadalbane, Glenfinnal und Kilbride, Kilninver und Kilmichael. Sie erfuhr, daß die Vorsilbe »Kil« auf eine Einsiedlerklause aus dem Mittelalter hindeutete. Begann ein Ortsname mit »Inver« oder »Aber«, lag das Dorf an einer Flußmündung. »Strath«, bezeichnete ein Tal, und die Vorsilbe »Bad« bedeutete, daß das Dorf im Wald lag.
Bei jedem Abendessen kam es zu lautstarken Auseinandersetzungen. Die Schotten stritten sich über fast alles. Ihre Vorfahren hatten stolzen Clans angehört, deren Ehre sie noch immer erbittert verteidigten.
»Das Haus Bruce hat nur Feiglinge hervorgebracht. Die haben vor den Engländern gekuscht wie winselnde Hunde.«
»Du weißt wieder mal nicht, wovon du redest, Ian! Der große Bruce hat sich den Engländern persönlich entgegengestellt. Aber das Haus Stuart hat gekuscht.«
»Ach, du bist ein Dummkopf wie alle aus deinem Clan!«
Dann verlagerte der Streit sich auf eine andere Ebene.
»Weißt du, was Schottland gebraucht hätte? Mehr Führer wie Robert den Zweiten. Das ist ein großer Mann gewesen! Der hat einundzwanzig Kinder gezeugt.«
»Ja - und die Hälfte davon sind Bastarde gewesen.«
Und wieder brach ein neuer Streit aus.
Lara konnte nicht fassen, daß die Männer sich über Ereignisse stritten, die über sechshundert Jahre zurücklagen.
»Mach' dir nichts daraus, Mädchen«, riet Mungo McSween ihr. »Ein Schotte fängt sogar in einem leeren Haus Streit an.«
Ein Gedicht von Sir Walter Scott regte Laras Phantasie besonders an. Er erzählte von dem kühnen jungen Ritter Lochinvar, der sein Leben aufs Spiel setzte, um seine Geliebte zu retten, die gezwungen werden sollte, einen anderen zu heiraten.
Eines Tages, dachte Lara,kommt ein schöner Lochinvar, um mich zu retten.
Einmal, bei der Küchenarbeit, fand Lara in einer Zeitschrift eine Anzeige, die ihr den Atem stocken ließ. Sie zeigte einen großen, blonden, gutaussehenden Mann, der einen eleganten Frack trug. Er hatte blaue Augen, lächelte strahlend und war jeder Zoll ein Prinz.
So wird mein Lochinvar aussehen, dachte Lara. Er ist irgendwo dort draußen auf der Suche nach mir. Eines Tages kommt er, um mich von hier zu entführen. Ich werde am Ausguß stehen und Geschirr waschen, und er wird von hinten an mich herantreten, die Arme um mich schlingen und flüstern: »Kann ich dir helfen?« Und ich werde mich umdrehen und ihm in die Augen sehen. Und ich werde fragen: »Hilfst du mir abtrocknen?«
»Was soll ich tun?« fragte Berthas Stimme.
Lara fuhr herum. Hinter ihr stand Bertha. Lara hatte nicht gemerkt, daß sie laut gesprochen hatte.
»Nichts«, stieß Lara errötend hervor.
Fasziniert war Lara bei diesen abendlichen Unterhaltungen auch von Erzählungen über die Vertreibung der schottischen Kleinbauern aus dem Hochland. Obwohl sie diese traurigen Geschichten schon oft gehört hatte, konnte sie nie genug davon
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