bekommen.
»Erzähl mir mehr davon«, bat sie, und Mungo McSween kam ihrem Wunsch nur allzu gern nach .
»Nun, alles hat im Jahre 1792 begonnen und hat mehr als sechzig Jahre lang gedauert. Die Großgrundbesitzer in den Highlands hatten gemerkt, daß Schafzucht mehr einbringen würde als die Verpachtung ihres Landes an Kleinbauern. Also haben sie Schafherden ins Hochland geholt, die die kalten Winter dort überleben konnten. Zuerst waren es hundert Schafe, dann tausend, dann zehntausend. Eine regelrechte Invasion!
Danach hat die große Vertreibung eingesetzt. Die Grundbesitzer hatten plötzlich ungeahnten Reichtum vor Augen - aber zuerst mußten sie die Kleinbauern loswerden, die auf winzigen Stücken Pachtland saßen. Weiß Gott, bettelarme Leute! Sie haben in elenden Hütten gehaust, ohne Fenster, ohne Schornsteine. Aber die Landbesitzer haben sie trotzdem verjagt.«
Lara hörte gespannt zu, mit großen Augen fest auf McSween gerichtet.
»Die Regierung wies das Militär an, die Dörfer zu besetzen und die Kleinbauern zu vertreiben. Die Soldaten rückten ins Dorf ein und gaben den Bauern sechs Stunden Zeit, mit ihrem Vieh und ihrer wenigen Habe abzuziehen. Ihre Ernte mußten sie auf dem Halm zurücklassen. Danach hat das Militär ihre Hütten niedergebrannt. So sind über eine Viertelmillion Männer, Frauen und Kinder aus der Heimat verjagt und an die Küsten getrieben worden.«
»Aber wie konnten sie von ihrem eigenen Besitz vertrieben werden?«
»Ah, das Land hat ihnen nie wirklich gehört, weißt du. Sie haben ein Stück von einem Großgrundbesitzer gepachtet, aber es ist nie ihr Eigentum gewesen. Sie haben dem Führer ihres Clans eine Gebühr bezahlt, um das Land bestellen und ein paar Stück Vieh aufziehen zu dürfen.«
»Was passierte, wenn Leute sich geweigert haben?« fragte Lara atemlos.
»Familien, die ihre Hütten nicht rechtzeitig geräumt hatten, sind mit ihnen verbrannt worden. Die Soldaten haben keinen Pardon gegeben. Ach, es ist eine Schreckenszeit gewesen! Die Menschen haben Hunger gelitten. Dann ist die Cholera ausgebrochen, und andere Krankheiten haben wie Lauffeuer um sich gegriffen.«
»Wie schrecklich!« sagte Lara.
»Genau, Mädchen. Unsere Leute haben von Brot, Rüben und Haferbrei gelebt - wenn überhaupt was zu bekommen war. Aber eines hat die Regierung den Hochländern nie rauben können: ihren Stolz. Sie haben sich gewehrt, so gut sie konnten. Auch nachdem ihre Hütten niedergebrannt waren, sind die Obdachlosen noch tagelang in der Nähe geblieben und haben versucht, irgendwas aus den Ruinen zu bergen. Meine Vorfahren sind dabeigewesen und haben alles durchlitten. Das ist Teil unserer Geschichte und hat sich in unsere Seelen eingebrannt.«
Lara sah Tausende von verzweifelten Obdachlosen vor sich, die alles verloren hatten und kaum begreifen konnten, was ihnen zugestoßen war. Sie hörte das Wehklagen der Trauernden und die Angstschreie der Kinder.
»Was ist aus all den Leuten geworden?« fragte sie betroffen.
»Sie sind ausgewandert - auf Schiffen, die wahre Seelenverkäufer gewesen sind. Viele der zusammengepferchten Passagiere sind an der Ruhr gestorben. Manchmal sind die Schiffe in Stürme geraten und wochenlang aufgehalten worden, so daß an Bord Hungersnot herrschte. Nur die Stärksten waren noch am Leben, als die Schiffe endlich in Kanada angelegt haben. Aber dort erwartete sie etwas, das sie noch nie gesehen hatten.«
»Ihr eigenes Land», sagte Lara.
»Ganz genau, Mädchen.«
Eines Tages, nahm Lara sich fest vor, besitze ich eigenes Land, das mir niemand - niemand! - mehr wegnehmen wird.
An einem Juliabend war James Cameron mit einem Mädchen in Kristies Bordell im Bett, als er einen Herzanfall bekam. Er war ziemlich betrunken, und als er plötzlich zur Seite kippte, nahm seine Gespielin an, er sei lediglich eingeschlafen.
»Nein, so geht das nicht! Unten warten noch andere Kunden auf mich. Wach auf, James! Komm, wach auf!«
Cameron griff sich, nach Atem ringend, an die Brust.
»Um Himmels willen«, ächzte er, »hol mir 'nen Arzt!«
Ein Krankenwagen brachte ihn in das kleine Krankenhaus in der Quarry Street. Doktor Duncan ließ Lara holen.
»Was ist passiert?« fragte sie aufgeregt. »Ist mein Vater tot?«
»Nein, Lara, aber er hat einen schweren Herzanfall gehabt.«
Sie stand wie vor den Kopf geschlagen da. »Bleibt er ... bleibt er am Leben?«
»Schwer zu sagen. Wir tun jedenfalls, was wir können.«
»Darf ich zu ihm?«
»Am besten kommst du morgen früh wieder, Mädchen.«
Sie ging heim, vor Angst wie benommen. Bitte, lieber Gott, laß ihn nicht sterben, dachte sie. Er ist alles, was ich habe.
Zu Hause wurde sie von Bertha erwartet. »Was ist passiert?«
Lara erzählte es ihr.
»O Gott!« sagte Bertha. »Und heute ist Freitag!«
»Was?«
»Freitag. Der Tag, an dem die Mieten kassiert werden müssen. Wie ich Sean MacAllister kenne, benützt er das als Ausrede, um uns alle auf die Straße zu setzen.«
In letzter Zeit war es häufiger vorgekommen, daß James Cameron, wenn er wieder einmal betrunken war, Lara damit beauftragt hatte, die Mieten in Sean MacAllisters übrigen Fremdenheimen zu kassieren. Lara hatte das Geld bei ihrem Vater abgeliefert, der es am nächsten Tag dem Bankier gebracht hatte.
»Was sollen wir bloß machen?« jammerte Bertha.
Und plötzlich wußte Lara, was getan werden mußte.
»Keine Angst«, sagte sie, »ich kümmere mich darum.«
Beim Abendessen sagte Lara: »Gentlemen, hören Sie mir bitte einen Augenblick zu!« Die Unterhaltung verstummte. Alle sahen sie an: »Mein Vater hat einen . einen kleinen Schwindelanfall erlitten. Er liegt im Krankenhaus. Die Ärzte wollen ihn ein paar Tage beobachten. Bis er zurückkommt, kassiere ich die Mieten. Nach dem Essen erwarte ich Sie in der Halle.«
»Kommt er wieder auf die Beine?« wollte einer der Mieter wissen.
»Ja, natürlich«, antwortete Lara mit gezwungenem Lächeln.
Nach dem Essen kamen die Männer nacheinander in die Halle und zahlten bei Lara ihre Wochenmiete.
»Hoffentlich erholt dein Vater sich bald, Mädchen .«
»Falls ich irgendwas für dich tun kann, brauchst du's nur zu sagen .«
»Du bist ein braves Mädchen, daß du das für deinen Vater tust .«
»Was ist mit den übrigen Häusern?« fragte Bertha. »Er muß noch in den vier anderen kassieren.«
»Ja, ich weiß«, sagte Lara. »Wenn du inzwischen abspülst, gehe ich die Mieten kassieren.«
Bertha machte ein zweifelndes Gesicht. »Na, dann viel Erfolg!«
Es war leichter, als Lara gedacht hatte. Die meisten Mieter fanden mitfühlende Worte und freuten sich, dem jungen Mädchen helfen zu können.
Am nächsten Morgen ging Lara mit den Umschlägen, in denen die Mieteinnahmen steckten, zu Sean MacAllister. Der Bankier saß in seinem Büro, als Lara hereinkam.
»Meine Sekretärin hat gesagt, daß du mich sprechen willst.«
»Ja, Sir.«
MacAllister betrachtete das magere, ungepflegte Wesen vor seinem Schreibtisch. »Du bist James Camerons Tochter, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Sarah.«
»Lara.«
»Tut mir leid, was deinem Vater passiert ist«, behauptete MacAllister. Aus seinem Tonfall aber klang kein Mitgefühl. »Nachdem er jetzt zu krank ist, um seine Arbeit zu tun, muß ich mich natürlich nach Ersatz umsehen. Ihr .«
»Nein, Sir!« sagte Lara hastig. »Er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.«
»Dich?«
»Ja, Sir.«
»Tut mir leid, aber das .«
Lara legte die Umschläge auf den Schreibtisch. »Hier sind die Wochenmieten.«
MacAllister starrte sie überrascht an. »Alle?«
Sie nickte wortlos.
»Und du hast sie kassiert?«
»Ja, Sir. Und ich kassiere sie jede Woche, bis Papa wieder auf den Beinen ist.«
Читать дальше