»Mach dir deswegen keine Sorgen. Sieh lieber zu, daß du so schnell wie möglich heimkommst.« Sie wandte sich an ihre
Mädchen. »Ihr kommt am besten gleich mit.«
James Cameron war ein Mann mit verlebten Zügen, der früher einmal sehr gut ausgesehen haben mußte. Er schien Mitte Vierzig zu sein. In Wirklichkeit war er erst Anfang dreißig und verwaltete eines der Fremdenheime, die dem hiesigen Bankier Sean MacAllister gehörten. James Cameron und seine Frau Peggy teilten sich seit fünf Jahren die Arbeit: Sie putzte und kochte für die zwei Dutzend Dauergäste - und James trank für sie alle. Freitags mußte er in vier weiteren Fremdenheimen, die MacAllister in Glace Bay gehörten, die Mieten kassieren. Das war wieder ein Grund - als ob er einen gebraucht hätte -, loszuziehen und sich zu betrinken.
James Cameron war ein verbitterter Mann, der seine Verbitterung genoß. Er war ein Versager und suchte die Schuld für sein Versagen bei allen anderen, nur nicht bei sich selbst. Im Laufe der Jahre war es soweit gekommen, daß er sein Versagen genoß, weil er sich als Märtyrer fühlen konnte. Als James ein Jahr alt gewesen war, waren seine Eltern mit ihrer geringen Habe aus Schottland nach Glace Bay ausgewandert und hatten versucht, sich dort durchzuschlagen. Der Vater hatte den Jungen schon mit vierzehn Jahren zur Arbeit ins Kohlebergwerk geschickt. Zwei Jahre später hatte James sich bei einem Grubenunglück eine leichte Rückenverletzung zugezogen und seine Arbeit prompt aufgegeben. Wieder ein Jahr später waren seine Eltern bei einer Zugkatastrophe umgekommen.
Das alles hatte James Cameron zu der Überzeugung gebracht, daß er für sein Versagen nicht selbst verantwortlich, sondern das Schicksal gegen ihn war. Aber er besaß zwei wichtige Vorzüge: Er sah blendend aus und konnte sehr charmant sein. Während eines Wochenendes in Sydney, der nächsten etwas größeren Stadt, lernte er eine leicht zu beeindruk-kende junge Amerikanerin namens Peggy Maxwell kennen, die dort mit ihren Eltern Urlaub machte. Sie war nicht besonders hübsch, aber die Maxwells waren sehr wohlhabend, und James
Cameron war sehr arm. Er bezauberte Peggy Maxwell, die ihn gegen den Rat ihres Vaters vom Fleck weg heiratete.
»Als Mitgift bekommt Peggy fünftausend Dollar«, erklärte ihr Vater James. »Das ist deine Chance, etwas aus dir zu machen. Du kannst das Geld in Immobilien anlegen und binnen fünf Jahren verdoppeln. Dabei helfe ich dir gern.«
Aber James hatte keine Lust, fünf Jahre zu warten. Er investierte das Geld in ein zweifelhaftes Ölbohrungsprojekt, dessen Risiken er nicht beurteilen konnte, und war zwei Monate später pleite. Sein wütender Schwiegervater war nicht bereit, ihm noch einmal zu helfen. »Du bist ein Dummkopf, James, und ich habe keine Lust, schlechtem Geld gutes nachzuwerfen.«
Die Ehe, die James Camerons Rettung hatte sein sollen, erwies sich als Katastrophe, denn nun hatte er eine Frau, und keine Arbeit.
Schließlich kam Sean MacAllister ihm zur Hilfe. Der einzige Bankier von Glace Bay war um die Fünfzig, ein stämmiger, schwerfälliger Mann, der stets Anzüge mit Weste und einer dicken goldenen Uhrkette trug. Er war zwanzig Jahre zuvor nach Glace Bay gekommen und hatte sofort erkannt, welche Möglichkeiten sich hier boten. Für die in die Stadt strömenden Bergleute und Holzfäller gab es nicht genügend Unterkünfte. MacAllister hätte ihnen Häuser finanzieren können, aber er hatte eine bessere Idee gehabt. Er wußte, daß mehr zu verdienen war, wenn er diese Männer in Fremdenheimen zusammenpferchte. Schon zwei Jahre später gehörten ihm ein Hotel und fünf Fremdenheime, die ständig überfüllt waren.
Verwalter für diese Objekte waren schwer zu finden, denn die Arbeit war anstrengend. Der Verwalter sorgte dafür, daß die Zimmer vermietet waren, beaufsichtigte die Küche, gab das Essen aus und kümmerte sich darum, daß alles halbwegs sauber war. Was das Gehalt betraf, war Sean MacAllister kein Mann, der Geld zum Fenster hinauswarf.
Der Verwalter eines seiner Fremdenheime hatte eben gekün-digt, und MacAllister fand, James Cameron sei der geeignete Nachfolger für ihn. Cameron, der gelegentlich kleine Kredite bei ihm aufgenommen hatte, war mit den Tilgungszahlungen im Rückstand. Der Bankier ließ den jungen Mann zu sich kommen.
»Ich habe einen Job für Sie«, sagte MacAllister.
»Wirklich?«
»Sie sind ein Glückspilz! Sie kriegen eine wunderbare Stellung, die soeben frei geworden ist.«
»Bei Ihnen in der Bank?« frage James Cameron. Die Idee, in einer Bank zu arbeiten, gefiel ihm. Wo viel Geld herumlag, bestand immer die Möglichkeit, daß etwas hängenblieb.
»Nicht in der Bank«, erklärte MacAllister. »Sie sind ein liebenswürdiger junger Mann, James, und ich glaube, daß Ihnen der Umgang mit Menschen liegt. Ich möchte, daß Sie mein Fremdenheim in der Cablehead Avenue führen.«
»Ich soll einFremdenheim führen?« fragte Cameron mit Verachtung in der Stimme.
»Sie brauchen ein Dach über dem Kopf«, stellte der Bankier fest. »Außer Kost und Logis für Sie und Ihre Frau gibt es auch ein kleines Gehalt.«
»Wie klein?«
»Ich will großzügig sein, James. Fünfundzwanzig Dollar die Woche.«
»Fünfundzwanzig ...?«
»Sie brauchen den Job nicht anzunehmen. Es gibt genügend andere Bewerber.«
Zuletzt blieb James Cameron nichts anderes übrig, als zu sagen: »Ich nehme ihn.«
»Gut. Übrigens erwarte ich, daß Sie freitags in allen meinen Pensionen die Mieten kassieren und das Geld samstags bei mir abliefern.«
Peggy Cameron war entsetzt, als James ihr von seiner neuen Stellung erzählte. »Aber wir haben keine Ahnung, wie man ein
Fremdenheim führt, James!«
»Das lernen wir schon. Die Arbeit teilen wir uns.«
Und sie glaubte ihm. »Gut, irgendwie kommen wir schon zurecht«, sagte sie.
Tatsächlich waren sie auf ihre Weise bisher irgendwie zurechtgekommen.
Im Laufe der Jahre boten sich James Cameron mehrmals Gelegenheiten, einen besseren Job zu bekommen, der zugleich mehr Ansehen und höheres Gehalt gebracht hätte, aber er genoß sein Versagen zu sehr, um seinen Verwalterposten aufzugeben.
»Warum soll ich mich abstrampeln?« brummte er. »Ist das Schicksal gegen dich, hast du sowieso nie Glück.«
Und jetzt, in dieser Septembernacht, dachte er bei sich: Nicht mal bei meinen Nutten darf ich mich in Ruhe amüsieren! Der Teufel soll Peggy holen.
Als er Madame Kristies Etablissement verließ, spürte er eisigen Herbstwind im Gesicht.
Am besten stärke ich mich erst mal für die Unannehmlichkeiten, die vor mir liegen, überlegte James Cameron sich und kehrte im Ancient Mariner ein.
Eine Stunde später wankte er in Richtung Fremdenheim, das in New Aberdeen stand - dem ärmsten Viertel von Glace Bay.
Als er schließlich dort eintraf, wurde er von einem halben Dutzend Gäste besorgt erwartet.
»Der Arzt ist bei Peggy«, sagte einer der Männer. »Beeil dich, Mann!«
James torkelte in das kleine, dürftig möblierte Schlafzimmer, das er sich mit Peggy teilte. Von nebenan war das Quäken eines Neugeborenen zu hören. Peggy lag mit geschlossenen Augen reglos im Bett. Doktor Duncan beugte sich über sie. Er drehte sich um, als er James hereinpoltern hörte.
»Was geht hier vor?« fragte James undeutlich.
Der Arzt richtete sich auf und musterte James angewidert. »Sie hätten Ihre Frau zur Untersuchung zu mir schicken sollen«, sagte er.
»Und gutes Geld zum Fenster rauswerfen? Sie kriegt bloß 'n Kind. Was gibt's da ...?«
»Peggy ist tot. Ich habe alles Menschenmögliche getan. Sie hat Zwillinge bekommen. Den Jungen habe ich nicht retten können.«
»Jesus!« flüsterte James Cameron. »Wieder mal das Schicksal!«
»Was?«
»Das Schicksal, Doktor. Es war schon immer gegen mich. Und jetzt hat's mir meinen Stammhalter genommen. Ich hab nicht gewußt, daß .«
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