Jemand stellte ihr nach. Sie hatte gelesen, daß es Triebtäter gab, Spanner, Schleicher, Fetischisten, wie immer man sie auch nennen mochte, die Frauen verfolgten und belästigten, aber so etwas kam doch nur in einer anderen, einer brutaleren Welt vor. Sie hatte keine Ahnung, wer es sein könnte, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihr etwas antun wollte. Sie kämpfte mit aller Macht gegen ihre Ängste an, wollte auf keinen Fall die Nerven verlieren, aber in letzter Zeit war sie von fürchterlichen Alpträumen heimgesucht worden, und jeden Morgen hatte sie beim Aufwachen das Gefühl, als drohte ihr ein schreckliches Unheil. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein, dachte Ashley Patterson. Ich arbeite zuviel. Ich brauche Urlaub.
Sie wandte sich um und betrachtete sich im Schlafzimmerspiegel. Sie war Ende Zwanzig, hübsch gekleidet, schlank, hatte ein ebenmäßiges, geradezu aristokratisches Gesicht und intelligente, besorgt dreinblickende braune Augen. Das dunkle Haar fiel in sanftem Schwung auf die Schulter. Sie war elegant und attraktiv, aber auf eine eher dezente Art. Ich kann mich nicht ausstehen, dachte Ashley. Ich bin zu dünn. Ich muß mehr essen. Sie ging in die Küche und bereitete das Frühstück zu, zwang sich, nicht mehr an ihre Ängste und Beklemmungen zu denken, und konzentrierte sich darauf, daß das Omelett leicht und luftig geriet. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und schob eine Scheibe Brot in den Toaster. Zehn Minuten später war alles fertig. Ashley deckte den Tisch und setzte sich hin. Sie griff zur Gabel, starrte einen Moment lang auf das Frühstück und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. Vor lauter Angst war ihr der Appetit vergangen.
Das kann nicht so weitergehen, dachte sie ungehalten. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber so was lasse ich nicht mit mir machen. Niemals.
Ashley warf einen Blick auf ihre Uhr. Höchste Zeit, daß sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie sah sich noch einmal in der vertrauten Umgebung um, so als suchte sie Zuspruch. Ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung, die aus Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer, Bad, Küche und Gästetoilette bestand, lag im zweiten Stock eines Mietshauses am Via Camino Court. Sie wohnte seit drei Jahren in Cupertino, Kalifornien. Bis vor zwei Wochen war ihr diese Wohnung immer wie ein gemütliches Nest vorgekommen, ein Refugium. Jetzt war sie zu einer Festung geworden, einer Zuflucht, in die niemand eindringen und ihr etwas antun konnte. Ashley ging zur Wohnungstür und musterte das Schloß. Ich lasse mir ein Riegelschloß einbauen, dachte sie. Gleich morgen. Sie schaltete sämtliche Lichter aus, überzeugte sich davon, daß die Tür fest verschlossen war, und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage.
Die Garage war menschenleer. Ihr Wagen stand etwa fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Sie sah sich vorsichtig um, rannte dann zu ihrem Wagen, stieg ein, verriegelte die Türen und blieb einen Moment lang sitzen, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Dunkel dräuende Wolken zogen über den Himmel, als sie in Richtung Innenstadt fuhr. Laut Wetterbericht sollte es Regen geben. Aber es wird nicht regnen, dachte Ashley. Die Sonne wird wieder herauskommen. Ich schlage dir was vor, lieber Gott. Wenn es nicht regnet, bedeutet das, daß alles in Ordnung ist, daß ich mir alles nur eingebildet habe.
Zehn Minuten später fuhr Ashley Patterson durch das Stadtzentrum von Cupertino. Sie war stets aufs neue beeindruckt, wenn sie sah, was aus diesem einstmals verschlafenen Winkel des Santa Clara Valley geworden war. Hier, in diesem rund achtzig Kilometer südlich von San Francisco gelegenen Tal, hatte die sogenannte Computerrevolution ihren Anfang genommen, was dem Tal den durchaus treffenden Beinamen Silicon Valley eingetragen hatte.
Ashley war bei der Global Computer Graphics Corporation beschäftigt, einem erfolgreichen, rasch expandierenden, jungen Unternehmen mit zweihundert Angestellten.
Als Ashley in die Silverade Street einbog, überkam sie wieder dieses beklemmende Gefühl, als wäre er hinter ihr, verfolgte sie. Aber wer? Und warum? Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Anscheinend war alles so wie immer.
Doch eine innere Stimme sagte ihr etwas ganz anderes.
Vor Ashley erstreckte sich das weitläufige, moderne Firmengebäude von Global Computer Graphics. Sie fuhr auf den Parkplatz, zeigte dem Wachmann ihren Ausweis und stieß auf den für sie reservierten Stellplatz. Hier fühlte sie sich sicher.
Als sie aus dem Wagen stieg, fing es an zu regnen.
Um neun Uhr morgens herrschte bei Global Computer Gra-phics bereits reges Treiben. In den acht nach dem Baukastenprinzip gestalteten Kabuffs saßen die Computergenies in Diensten der Firma, allesamt junge Leute, die hier Websites entwickelten, Logos für neue Unternehmen gestalteten, Graphiken für CD-Hüllen und Buchumschläge entwarfen und Bildmaterial für Illustrierte bearbeiteten. Der Betrieb war in mehrere Abteilungen untergliedert: Verwaltung, Verkauf, Marketing und Kundendienst. Der Umgangston war eher zwanglos. Die Angestellten liefen in Jeans, T-Shirts und Pullis herum.
Als Ashley sich zu ihrem Arbeitsplatz begeben wollte, wurde sie von ihrem Abteilungsleiter Shane Miller angesprochen.
»Morgen, Ashley.«
Shane Miller war Anfang Dreißig, ein stämmiger, ernster Mann, der eine angenehme Art an sich hatte. Am Anfang hatte er versucht, Ashley ins Bett zu locken, hatte es aber schließlich aufgegeben, und im Lauf der Zeit waren sie gute Freunde geworden.
Er reichte Ashley die neueste Ausgabe des Time Magazine. »Schon gesehen?«
Ashley schaute auf das Cover. Dort prangte das Bild eines vornehm wirkenden, auf die Sechzig zugehenden Mannes mit silbergrauem Haar. Die Schlagzeile lautete: Dr. Steven Patterson, Vater der Herz-Mikrochirurgie.
»Ich hab’s schon gesehen.«
»Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters?«
Ashley lächelte. »Wunderbar.«
»Er ist ein großartiger Mann.«
»Ich werd’s ihm ausrichten. Wir sind zum Mittagessen verabredet.«
»Gut. Übrigens ...« Shane Miller zeigte Ashley ein Foto von einem Filmstar, das für die Anzeige eines Kunden verwendet werden sollte. »Wir haben hier ein kleines Problem. Desiree hat etwa fünf Kilo zugelegt, und das sieht man. Schau dir die dunklen Ringe unter den Augen an. Und selbst mit Make-up wirkt die Haut unrein. Meinst du, du bekommst das hin?«
Ashley betrachtete das Bild. »An die Augen kann ich mit Weichzeichner rangehen. Ich könnte versuchen, ihr Gesicht etwas schmäler zu ziehen, aber - nein. Vermutlich würde sie dadurch etwas merkwürdig aussehen.« Wieder musterte sie das Bild. »Möglicherweise muß ich’s mit Airbrush versuchen und an der einen oder anderen Stelle den Kloner einsetzen.«
»Danke. Ist mit Samstag abend alles klar?«
»Ja.«
Shane Miller deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Das eilt nicht. Sie wollten es schon letzten Monat haben.«
Ashley lächelte. »Na, das ist ja mal ganz was Neues.«
Sie machte sich an die Arbeit. Ashley war Werbegraphikerin und Expertin für Text- und Bildgestaltung per Computer.
Als Ashley eine halbe Stunde später an dem Foto arbeitete, spürte sie, daß jemand sie beobachtete. Sie blickte auf. Es war Dennis Tibble.
»Morgen, meine Süße.«
Seine Stimme ging ihr auf die Nerven. Tibble war das Computergenie der Firma. Er wurde im ganzen Betrieb nur »Der Tüftler« genannt. Jedesmal wenn ein Computer abstürzte, wurde Tibble darauf angesetzt. Er war Anfang Dreißig, dürr und glatzköpfig, und unangenehm arrogant. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht mehr locker, und in der Firma ging das Gerücht, daß er auf Ashley fixiert sei.
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